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Montag, 11.11.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

„Das Stadttheater muss sich verändern“

Sebastian Seidel im DAZ-Interview über die Zukunft des Theaters



Wenn man in Augsburg über die Rolle des so genannten „Off-Theaters“ spricht, fällt als erstes der Name Seidel. Dr. Sebastian Seidel hat in Augsburg Literaturwissenschaft studiert und sich bereits in den Neunzigern mit dem Germanisten-Theater über die Universität hinaus einen soliden Ruf erarbeitet. Seit mehr als einem Jahrzehnt verkörpert Seidel als Person das S’ensemble Theater in der Kulturfabrik. „Eine Stadt wie Augsburg braucht ein mutiges Theater, das sich sowohl inhaltlich in die Stadt hinein wirft als auch den künstlerischen Austausch mit den Menschen vor Ort wagt“, so Seidel im Oktober 2011 im Gespräch mit der DAZ.

Sebastian Seidel

Sebastian Seidel

DAZ: Herr Seidel, letzten Donnerstag im Oktober ist im Stadtrat ein Grundsatzbeschluss verabschiedet worden, der ein klares Bekenntnis zur Sanierung des Stadttheaters beinhaltet. Die Eckdaten sind Ihnen bekannt: Sanierung Großes Haus: 27 Millionen Euro; Sanierung Freilichtbühne 7 Millionen Euro; Neubau für Magazingebäude, Werkstätten und Verwaltungstrakt 55 Millionen Euro. Zieht man die 45prozentige Rekordbezuschussung des Freistaates ab, bedeutet das unterm Strich erst mal, dass mit diesem Beschluss die Stadtgesellschaft über 15 Jahre hinweg mit zirka 3,5 Millionen Euro per anno für eine Grundsanierung des Theaters belastet werden soll. Die laufenden Betriebskosten für das Stadttheater betragen jährlich deutlich mehr als 20 Millionen Euro, davon kommen zirka 12 bis 13 Millionen Euro von der Stadt, wenn man es also grob überschlägt, fließen bis die Sanierung fertig gestellt sein soll, also bis 2018 der unvorstellbare Betrag von 270 Millionen Euro Steuergelder in das Theater.

Seidel: Und wo bleibt nun die Frage?

DAZ: Ist das in Ihren Augen nicht maßlose Verschwendung?

Seidel: Ganz nüchtern betrachtet, kann Geld überall verschwendet oder sinnvoll eingesetzt werden. Das hängt nicht von der Höhe der Summe ab, sondern von ihrer Verwendung. Und ob man damit einen längerfristigen Plan verfolgt.

DAZ: Dann schauen wir doch mal auf Ihr Haus. Wie hoch ist Ihr Gesamtetat?

Seidel: Unser Etat ist bescheiden, aber dafür für die nächsten drei Jahre gesichert, was heutzutage viel Wert ist! Wir bekommen von der Stadt 35.000 Euro pro Jahr, der Freistaat legt noch mal die Hälfte oben drauf, dazu kommen Sponsoren- und Spendengelder. Der reine Theaterbetrieb wird dieses Jahr voraussichtlich einen Umsatz von 250.000 Euro machen, wovon wir 70% selber erwirtschaften. Indirekt wird über unser Theater auch die gesamte Kulturfabrik finanziert, in der wir der größte Mieter sind und die Dinge am Laufen halten.

DAZ: Wie viele Stücke produzieren Sie pro Saison?

„Ich schreibe gerade ein Stück, das sich mit dem Verhältnis der Stadt Augsburg zu Brecht beschäftigt“
Die seit letzter Spielzeit umgebaute Theaterbar

Die seit letzter Spielzeit umgebaute Theaterbar

Seidel: Pro Spielzeit produzieren wir mindestens fünf, meistens sechs Produktionen, darunter mindestens eine Uraufführung, außerdem fünf Wiederaufnahmen, dazu kommen verschiedene Projekte wie der Augsburger Dramatikerpreis, das Festival im Martini-Park, „Stärken vor Ort“ oder Auftragswerke wie zum Beispiel für das Brecht-Festival 2012. Oder ganz neu die Augsburger Literaturgespräche in Kooperation mit dem Evangelischen Forum Annahof, der Universität und dem Bezirk. Damit sind wir an der absoluten Obergrenze, was mit unserem Etat machbar ist. Ich glaube, das Stadttheater produziert in dieser Spielzeit zehn Sprechtheaterstücke, wobei diese natürlich meistens viel personalintensiver sind als unsere Produktionen.

DAZ: Ein Auftragswerk für das Brechtfestival? Welches Thema, welcher Ort?

Seidel: Ich schreibe gerade ein Stück mit dem Arbeitstitel „Plan B“. Es wird am 9. Februar, dem Vorabend von Brechts Geburtstag, im Rathaus im großen Sitzungssaal aufgeführt werden, denn das Stück stellt unmittelbar eine Stadtratssitzung dar, die sich auf ganze spezielle Weise – mehr will ich noch nicht verraten – mit Brecht bzw. mit dem Verhältnis der Stadt Augsburg zu Brecht in den letzten 50 Jahren beschäftigt.

DAZ: Klingt spannend. Bei allem Respekt, aber müsste das nicht das Augsburger Stadttheater übernehmen?

Brechtburg: „Plan B“ für Augsburg

Brechtburg: „Plan B“ für Augsburg

Seidel: Auf den ersten Blick vielleicht ja. Aber auf den zweiten scheint das Verhältnis zwischen dem Stadttheater und dem Brecht-Festival nicht das Beste zu sein, zumindest spielen sie dieses Jahr in der Brechtwoche nicht Brecht, sondern Schiller und das Festival kann nicht ins Theater. Außerdem gibt es am Stadttheater niemanden, der schon so lange in dieser Stadt Theater macht als Regisseur oder Dramatiker wie ich. Schon 1998 war ich beim Programm zu Brechts 100. Geburtstag mit der Inszenierung von „Turandot oder Der Kongress der Weißwäscher“ dabei. Insofern überblicke ich einen langen Zeitraum der Brecht-Rezeption in Augsburg und täglich werden mir neue Anekdoten zugetragen.

DAZ: Welches Theater würden Sie machen, wären Sie Intendant am Augsburger Stadttheater?

Seidel (lacht): Was für eine Frage!

DAZ: Zu heikel?

Seidel: Im Kunstbetrieb sollte einem eigentlich keine Frage zu heikel sein. Wir freien Theaterschaffenden haben uns ja ganz bewusst für diese Art von Theater entschieden und sind nicht an ein Stadttheater gegangen, weil uns die Art, wie dort Theater bisher verstanden wurde, nicht entspricht.

DAZ: Ihr Premieren-Stück „Der Kontrabass“ ist sicherlich dafür kein Merkmal. Das wurde und wird in den Staatstheatern rauf und runter gespielt. Macht die Differenzierung zwischen der Freien Szene und dem hochsubventionierten Stadt- und Staatstheaterbetrieb aus inhaltlicher Sicht überhaupt noch Sinn?

„Bei den Kammerspielen wird das Theater durchlässiger gemacht“
Heiko Dietz als Kontrabassist

Heiko Dietz als Kontrabassist

Seidel: Sie haben Recht, eine Produktion wie der „Kontrabass“ könnte auch an einem Stadttheater laufen. Aber darauf kommt es nicht an, sondern darauf, ob der Text aktuell ist, und das haben Sie in Ihrer Kritik ja dargelegt. Gleichwohl können wir nicht mit dem Stadttheater verglichen werden. Im Verband der freien Theater diskutieren wir ausführlich, was unsere Vision von Theater ist und wie sie sich von der Stadttheatermaschinerie unterscheidet. Wobei in größeren Städten – weniger in Augsburg – zu beobachten ist, dass die strikte Trennung zwischen öffentlichen Bühnen und freier Szene tatsächlich immer weiter aufbricht und auch die Arbeitsweisen der freien Szene übernommen werden – siehe zum Beispiel was Simons an den Münchner Kammerspielen macht oder auch Kusej mit dem Residenztheater vorhat. Dort werden die bisherigen erstarrten Produktionsbedingungen aufgebrochen und das Theater durchlässiger gemacht, sowohl inhaltlich als auch personell. Das wäre mein Ansatz, der übrigens auch von der Kulturstiftung des Bundes mit dem Fonds „Doppelpass“ gefördert wird. Doppelpass unterstützt Kooperationen zwischen freien Gruppen und festen Häusern. Ende Oktober wird die freie Theater- und Tanzszene beim Bundeskongress in Dresden vor allem auch darüber diskutieren und sich über die schon bestehenden Kooperationen austauschen.

DAZ: Martin Kusej hat die Kritik mit einer eher konservativ-zeitlosen Schnitzler-Inszenierung („Das weite Land“) überzeugt. Ich würde mal sagen: Okay, ganz nett, aber das ist bürgerliches Theater. Das hatte mit Neuerung nichts zu tun. Was soll er denn in München aus dem Residenztheater heraus schon Neues hervorbringen? Und vielleicht ist unseren Lesern der Name Johan Simons auch nicht so geläufig: Ein Wort zu seinen Plänen an den Kammerspielen.

Seidel: Naja, ich denke, Kusej wird aus dem Residenztheater sehr viel Neues herausholen und viele Dorn-Anhänger werden ein ganz anderes Theater kennen lernen. Bislang kreiste das Theater ja vor allem um sich selbst. In Zukunft wird es viel offener und internationaler werden. Aber natürlich ist es in erster Linie ein Staatstheater und hat damit auch einen Kernauftrag, Klassiker zu spielen und beleben. Die Kammerspiele befassen sich schon seit einigen Spielzeiten mit den Geschichten, Biographien, Träumen und Problemen von Zuwanderern nach Deutschland und haben sich da ganz bewusst auf einen Weg begeben, der künstlerisch vollkommen neue Ergebnisse bringt. Das finde ich sehr spannend, um nicht zu sagen sogar notwendig in Anbetracht unserer Gesellschaft, die …

DAZ: … sich rasend schnell verändert, und das Staatstheater kommt dabei nicht wirklich mit. Das Theater, wie wir es kennen,wird von zwei unveränderbaren gesellschaftlichen Konstanten bedroht: Demographie und Migration. Eventuell eine tödliche Mixtur für das altehrwürdige deutsche Theatersystem. Unsere Stadt sieht in 20 Jahren anders aus als heute, wesentlich anders. Wie muss das Theater darauf reagieren? Wie muss das Theater der Zukunft aussehen? Konkreter, also lokaler gefragt: Welches Stadttheater braucht diese Stadt jetzt und in mittelfristiger Zukunft?

„Es gibt eine gewisse Ratlosigkeit unter den Theatermachern“

Seidel: Ich denke nach wie vor, dass das Theater die Kraft hat, den gesellschaftlichen Wandel nicht nur aufzugreifen, sondern auch vorausschauend zu thematisieren, wichtige Fragen aufzugreifen und künstlerische Antworten zu wagen. Aber sicherlich ist das augenblicklich nur an wenigen Häusern der Fall. Die Gesellschaft hat sich stark gewandelt und manche an den Theaterhäusern haben das noch nicht wirklich bemerkt. Oder sie haben es bemerkt und wissen nicht, damit umzugehen, welche Konsequenzen zu ziehen sind. Es gibt eine gewisse Ratlosigkeit unter Theatermachern, die ich an sich nicht schlimm finde, wenn sie transparent gemacht, wenn darüber gesprochen wird, was ein Theater in dieser Hinsicht ausprobiert, was es schon erreicht oder noch nicht erreicht hat. So wie zum Beispiel der Dramaturg der Kammerspiele Malte Jelden, der klar benennt, wieder in die Lage kommen zu wollen, „auf den Bühnen mit einem adäquaten Spiegelbild unserer Gesellschaft spielen zu können“. Gerade auch eine Stadt wie Augsburg braucht ein mutiges Theater, das sich sowohl inhaltlich in die Stadt hinein wirft als auch den künstlerischen Austausch mit den Menschen vor Ort wagt, auch wenn nicht immer sicher ist, was dabei künstlerisch herauskommt und ob es angenommen wird.

DAZ: Das hört sich spannend an, sagt sich aber so leicht dahin. Das Augsburger Stadttheater hatte – und hat – ja mit den „Webern von Augsburg“ etwas „Spiegelbildliches“ im Programm. Reicht das nicht aus?Wäre man mit einem Zuviel davon nicht zum Scheitern verurteilt?

„Die Chance liegt in einer neuen Offenheit über den Tellerrand der eigenen Ästhetik hinaus“

Seidel: Wenn man ein Stadttheater ist und eines für die gesamte Stadt bleiben will, kann man meiner Meinung nach auf Dauer nicht immer mit einem Spielplan, der – mit wenigen Ausnahmen wie die „Weber von Augsburg“ – genauso auch in jeder anderen Stadt angeboten werden könnte, auf Unentschieden spielen, sondern wenn man Menschen gewinnen will, die sich bislang nicht vom Theater auch nur im geringsten angesprochen gefühlt haben, dann muss ich auch mal angreifen, auch wenn ich Gefahr laufe zu verlieren. Aber aus Niederlagen wird man ja bekanntlich schlau und ist vielleicht doch einen Schritt weitergekommen.

DAZ: Das gefällt mir. Aber: Ein gutes Theater braucht ein gutes Publikum. Gibt es den Umkehrschluss? Braucht das „gute Publikum“ überhaupt noch ein Theater? Warum soll man heute noch in Augsburg und anderswo Theater spielen?

Herrenbach explosiv - der Flyer zum Stück

Herrenbach explosiv – der Flyer zum Stück

Seidel: Wenn man konkret in einzelne Stadtteile geht, wenn man Probleme unter Menschen ernst nimmt, dann liegen die Gründe für Theater geradezu auf der Straße und schreien danach, thematisiert zu werden. Und wenn das geschieht, wenn Menschen merken, dass sie das angeht, was dort verhandelt wird, dann sind sie auch ein „gutes“ Publikum und kommen. Vielleicht nicht sofort, aber das kann man auch nicht immer erwarten, sondern muss darum kämpfen. Ein gutes Beispiel, warum man in Augsburg oder anderswo noch Theaterspielen sollte, ist unser Projekt „Stärken vor Ort“, gefördert durch den europäischen Sozialfonds. In dem Stück „Herrenbach explosiv“ drücken die Jugendlichen ganz konkret ihre Situation aus, die sie sonst nirgends gespiegelt bekommen und dabei gewinnen sie und das Publikum einen neuen Blick auf sich und andere.

„Die Theaterleute müssen die Menschen überzeugen und nicht von oben herab auf die Bevölkerung schauen“

DAZ: Was muss passieren, damit das große Dreisparten-Theater mit Repräsentationscharakterund festem Ensemble nicht stirbt? Gibt es für die Zukunft dieses Theaters ein Rezept, eine Chance oder sind im Lauf der kommenden Jahrzehnte massenhafte Schließungen in der deutschen Theaterlandschaft unvermeidbar?

Seidel: Das Stadttheater von heute muss bereit sein, sich zu verändern, ganz klar. Und jede einzelne Stadt muss sich selber befragen, was sie für ein Theater will oder braucht. Ob es nur der Kulturpflege dienen oder darüber hinaus andere Aufgaben erfüllen soll. Die Legitimation muss aus der Stadtgesellschaft heraus erfolgen und es macht keinen Sinn, wenn Theaterleute, die nur für ein paar Jahre in einer Stadt sind, auf die Stadt und ihre Bewohner insgeheim schimpfen, weil die nicht verstehen wollen, warum Theater wichtig ist. Sie müssen die Menschen überzeugen und nicht von oben herab auf die Bevölkerung schauen, sondern ein natürlicher Teil sein. Dann eröffnen sich unzählige Möglichkeiten für die Zukunft eines Hauses. Wenn auch nur einige dieser Möglichkeiten ergriffen werden, wird niemand ernsthaft eine Schließung fordern. Insofern glaube ich, wenn sich mutige Künstler an den Häusern dem gesellschaftlichen Wandel stellen, nicht an Theatersterben, aber an eine gewisse notwendige Spezialisierung und Profilerneuerung. Die Chance liegt in einer neuen Offenheit über den Tellerrand der eigenen Ästhetik hinaus!

DAZ: Ein schönes Schlusswort. Herr Seidel, vielen Dank für das Gespräch.

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Fragen: Siegfried Zagler



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