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Freitag, 22.03.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Das Rätsel Mensch hört nicht auf, wenn seine Kaufkraft eingeschränkt ist

Warum ein echtes Sozialticket auch diejenigen fördert, die es finanziell nicht nötig haben

Von Siegfried Zagler

I

Dass die Würde des Menschen unantastbar ist, ist der Kernsatz eines Textes, der zu den wichtigsten Texten gehört, die je in deutscher Sprache verfasst wurden. „Die Würde des Menschen zu achten, ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt“, heißt es in unserem Grundgesetz. Wer diesen Text in seiner Radikalität ernst nimmt und ihn im Sinne Kants zur grundlegenden Prämisse seines Handelns macht, sollte keine Sekunde daran zweifeln, dass Not, Armut und die damit verbundene Ausgrenzung an gesellschaftlichen Prozessen von zirka zehn Prozent der Menschen in unseren Städten nicht hinnehmbar sind.

II

In einer an der freien Marktwirtschaft orientierten Zivilgesellschaft darf die offenbar systemische (weil unüberwindbare) Differenz zwischen Reich und Arm so wenig an der Mobilität wie am Zugang zur Nahrung, Wasser und Energie messbar sein. Das Gleiche gilt für die Bildungssysteme und das Gesundheitssystem: Niemand darf respektlos behandelt oder gar aufgegeben werden. So steht es im Grundgesetz, wenn man es genau liest. Darin besteht der ethische Fortschritt einer freien Gesellschaft, deren Feinde dort sitzen, wo nur die Rede von Arbeitsplätzen, Lohnabstandsgeboten und materieller Wertschöpfung ist.

III

„Die Gesunden bezahlen die Kosten der Kranken. Die Jungen den Lebensunterhalt der Alten und diejenigen die in Brot und Arbeit stehen, bezahlen die Kosten der Arbeitslosen.“ Dieses Denken ist mit dem Wort „Versicherung“ beschrieben. Mal abgesehen davon, dass dieses Prinzip ein Auslaufmodell zu sein scheint: nicht alle Kranken werden gesund. Nicht alle Alten sterben rechtzeitig (versicherungstechnisch gesehen) und natürlich finden nicht alle Menschen einen Arbeitsplatz (oder gar selbstbestimmte Arbeit). Niemand wird bestreiten, dass Menschen krank und alt werden und dass es dafür gesellschaftliche Konzepte geben muss. Bei der Arbeitslosigkeit verhält sich das nicht anders. Sie ist im Spiel der freien Märkte etwas Unveränderliches geworden, weshalb der marktwirtschaftliche Singsang (Wertekanon) der politischen Parteien, man müsse den Arbeitsmarkt fördern und nicht die Arbeitslosigkeit, beinahe zu einem Kalauer verkommen ist. Es gibt nur eine Stadtgesellschaft. Zu ihr gehören alle Bürger, also auch die vielzitierten „Langzeit-Hartzer auf hoffnungsloser Arbeitssuche“, die gerne als „Sozialschmarotzer“ und „Profiteure“ unserer Sozialsysteme bezeichnet werden.

IV

Albert Camus beschreibt in seinem philosophischen Essay „Der Mythos des Sisyphos“ Sisyphos als einen Mann, der stets „zu seinem Stein zurückkehrt.“ Für Camus ist Sisyphos nicht während seiner anstrengenden wie sinnlosen Arbeit interessant, sondern auf seinem Weg zu seinem Stein den Berg hinunter. In dieser Zeit habe er die Möglichkeit sich selbst und seinen Fluch zu erkennen. – Was das mit dem Sozialticket zu tun hat? Man muss schon mit Camus kommen, um den geneigten Leser für die kommende These zu entlasten, dass besonders jene Menschen, die aus dem Versicherungsprinzip herausfallen, also nicht zu ihrem Stein zurückkehren können oder wollen, gefördert und unterstützt werden müssen.

V

Ein Sozialticket dient nicht zur Förderung der arbeitssuchenden Hartz-IV-Empfänger im Sinne des Versicherungsmodells. Kein Arbeitssuchender findet schneller einen Job, weil ihm die Stadt die Hälfte der Kosten seines ÖPNV-Tickets zuschießt. Ein Sozialticket heilt auch nicht den Schmerz der Ausgrenzung, die durch die geringe Kaufkraft bedingt ist, indem es den Leistungsberechtigten Teilhabe an kulturellen Veranstaltungen und Straßenbahnfahrten ermöglicht. Es lindert auch den Schmerz der Ausgrenzung nicht, sondern verschiebt ihn in eine empfindsamere Zone, die etwas mit der Vorstellung, die das Wort „Teilhabe“ hervorruft, zu tun hat. „Teilhaben dürfen“ ist etwas anderes als dabei sein. Finden sich diejenigen, die geduldet sind, mit ihrer Duldung ab, fördert das Sozialticket den Status der Arbeitslosigkeit. Möglicherweise ist das der Grund, weshalb nur 20 Prozent der Leistungsberechtigten „ihr“ Ticket beantragen. Für die Betroffenen scheint ein Sozialticket entweder keine großen Verbesserungen zu bringen oder die Scham hält 80 Prozent davon ab, in die Rolle der Bedürftigen und Geduldeten zu schlüpfen. Ein anderer Gedanke sollte nicht weniger beunruhigend sein: 25 Euro sind für ein ÖPNV-Monatsticket immer noch zu teuer, wenn man seinen Lebensunterhalt mit 350 Euro bestreiten muss.

VI

Ein „echtes Sozialticket“ wäre dann „echt“, wenn es 100 Prozent der Leistungsberechtigten in Anspruch nehmen würden. Und es wäre zweitens eine große Errungenschaft, da ein echtes Ticket auch diejenigen fördert, die ein Sozialticket finanziell nicht nötig haben! (Damit ist die große Mehrheit der normal Beschäftigten gemeint.). Es geht nämlich nicht darum, dass man generös für „unsere Arbeitslosen“ etwas Gutes tut, sondern darum, dass man mit diesem Ticket Respekt und Interesse zum Ausdruck bringt. „Wer nicht arbeitet, ist interessant – auch dann, wenn er nicht vermögend ist.“ Ob an dieser provokanten These etwas dran ist, lässt sich nicht nur auf den Hippie-Felsen in Gomera oder Goa erkunden, nicht nur in den bürgerlichen Salons der Bohemiens, sondern auch in der Mitte unserer Gesellschaft, also im Foyer des Theaters, im Bus, im Zoo oder an der Imbissbude.

VII

Es geht also darum, dass eine zivile Gesellschaft nicht nur nach sozialer Gerechtigkeit strebt, sondern nach sozialem Fortschritt. Der erste Schritt zu diesem bedeutsamen Paradigmawechsel würde darin bestehen, dass nicht Beschäftigungslosigkeit bekämpft wird, sondern ihr Stigma. Der zweite Schritt bestünde darin, die Armut im Kopf zu enttabuisieren. Letzteres ist kein „Privileg“ der Beschäftigungslosen, sondern ein Problem, das sich auch durch alle Milieus der Beschäftigen zieht.

VIII

Ein echtes Sozialticket würde erst dann ein echtes sein, wenn es dazu beitrüge, dass sich in allen Bevölkerungsschichten die Erkenntnis durchsetzte, dass der Prozess der kulturellen Bildung nur funktioniert, wenn er von der gesamten Stadtgesellschaft geleistet wird. Das Rätsel Mensch hört nicht auf, wenn seine Kaufkraft eingeschränkt ist. Man solle also ein Sozialticket nicht zu sehr karitativ belasten, sondern als ein Ticket betrachten, das den Vorhang für eine Bühne öffnet, auf der der Gedanke gefördert wird, dass man sich nur viel zu erzählen hat, wenn man einander zuhören will.