Das Fußballspiel ist eine Metapher für grundloses Scheitern
Die aktuelle Bundesligasaison hat ihr erstes Drittel beinahe hinter sich. Die ersten beiden Plätze sind ausgemacht, die letzten auch. So schien es bis zum gestrigen Samstag. Vorne blieb alles wie gehabt, aber die Tür des direkten Abstiegs hat sich wieder weit geöffnet, und zwar für die halbe Liga. Dazu gehört natürlich der FCA, aber auch die Mainzer, deren Trainer Thomas Tuchel mit biblischer Ernsthaftigkeit nach Gerechtigkeit strebt.
Von Siegfried Zagler
Nachdem sieben Spiele der 11. Runde der Fußballbundesliga gespielt sind, lässt sich nach der 1:0 Niederlage von Bayer Leverkusen in Braunschweig konstatieren, dass sich die Frage um den Abstieg nicht nur auf den Relegationsplatz beschränken wird. Braunschweig und Freiburg sind am Leben und es ist nicht damit zu rechnen, dass sie daran frühzeitig etwas ändern sollte. Wer wie Braunschweig zu Hause auf diese Art gegen Leverkusen gewinnt, dem darf man mehr zutrauen als nur die Rolle der tapferen Untergeher. Braunschweig lebt und ist ein „echter Aufsteiger“, wie Torsten Lieberknecht zuletzt die Rolle der Braunschweiger auf dem Mainzer Lerchenberg so zutreffend charakterisierte. Lieberknecht wollte damit sagen, dass sich die Braunschweiger noch in die Liga hinein beißen müssen. Der SC Freiburg hat ebenfalls nach seinem „verkehrten“ Sieg in Nürnberg ein deutliches Lebenszeichen gesendet. Mit ihrem im positiven Sinne verrückten Fußballlehrer Christian Streich ist den Europa League-Teilnehmern spätestens in der Rückrunde ein Höhenflug zuzutrauen. Das Gleiche gilt für den Club: Am Valznerweiher wird sich niemand der Abstiegsangst fügen und sich kampflos ergeben. Kurzum: Das erste Drittel der Saison ist fast gelaufen und neben dem Sachverhalt, dass für die Deutsche Meisterschaft nur zwei Mannschaften in Fragen kommen, steht fest, dass sich in dieser Bundesligasaison nur wenige Mannschaften vor dem Abstieg sicher fühlen dürfen. Mainz gehört mit Sicherheit nicht dazu. Und schon ist die Rede vom FC Augsburg, der am heutigen Sonntag (15.30) zu Hause gegen Mainz eine „richtungsweisende Partie“ bestreitet. Richtungsweisend deshalb, weil der FCA es sich nicht leisten kann, Partien, die er als Favorit bestreitet, nicht zu gewinnen. Richtig: Der FCA ist Favorit! Das sagen zumindest die Wettbüros, also die gefühllosesten und kompetentesten Analysten, in der gewalttätigsten Sprache, die es im Fußball gibt: Die Sprache der Quoten.
Den Geruch des Abstiegs aus den Kleidern schütteln, Veh und Tuchel eine Nase drehen
„Es handelt sich um ein richtungsweisendes Spiel.“ Selten war dieser abgedroschene Satz, war diese Floskel zutreffender als für das heutige Spiel in der SGL-Arena. Sollten die Augsburger als Sieger hervorgehen, dann würden sie sich für mehr als eine Momentaufnahme am Dock der großen Player anflanschen, schüttelten vorübergehend den lähmenden Geruch des Abstiegs aus den Kleidern und drehten zwei ehemaligen Augsburger Trainern genussvoll eine Nase: Armin Veh und Thomas Tuchel, der heute wiederum alle Register ziehen wird, um den Stochastikern eine Nase zu drehen. Thomas Tuchel fühlt sich nach Niederlagen schnell schuldig, jedenfalls schuldiger als für Siege verantwortlich, wie er kürzlich in einem Interview mit der Süddeutschen seine Schwäche zum Ausdruck brachte, nämlich den Fußballsport und seinen Beruf nicht als Allegorie zu verstehen, sondern für die Wirklichkeit selbst zu halten, was immerhin verständlich scheint für jemand, der von Beruf Fußballtrainer ist.
Die vollkommene Fußballwelt als Gegenentwurf
Tuchels öffentliche Äußerungen lassen nach Siegen wie nach Niederlagen im Subtext erkennen, dass sich Fußballlehrer Tuchel in 90minütigen Handlungseinheiten nach Gerechtigkeit sehnt. Wenn der Fußball weder dazu taugt, die Welt zu verbessern noch sie zu erklären, dann sollte er sie ersetzen: als bessere, als als wahre, als vollkommene Welt, in der es gerecht zugeht. Die Bundesliga als platonischer Gegenentwurf zu den nach Gerechtigkeit strebenden Zivilgesellschaften, die in ihrem Streben nach Gerechtigkeit scheitern. – Hört man Tuchel genau zu, dann schimmert diese Haltung im Subtext seiner Kommentierungen.
Tuchel scheint nicht der Wirklichkeit eines Spiels auf die Schliche kommen zu wollen, er sehnt sich danach, die Wahrheit zu erkennen und landet stets bei der Gerechtigkeit. Falls sich Thomas Tuchel für komplexe Lebenszusammenhänge interessieren sollte, die über den Erkenntnishorizont eigener Erfahrung hinausgehen, dann besteht immerhin die Möglichkeit, dass Tuchel ahnt, dass Fußball nur eine Metapher für das Leben ist. Eine Metapher für grundloses Scheitern und die großartige Macht des Zufalls, ein Sinnbild für die Unverhältnismäßigkeit der Schöpfung und die Tristesse der Sinnlosigkeit sowie ein konkretes Abbild für die gnadenlose Wucht des Glücks und die Leere danach. Wer des Lesens mächtig ist, kann all das aus 90 Minuten Fußball herauslesen. Er kann es aber auch lassen und Fremderfahrung in der Kunst suchen. Das ist sicherer.
Fußballspiele haben nämlich selten über das Ergebnis und die Tabelle hinaus eine Bedeutung und einen ernstzunehmenden Erkenntniswert; ein Spiel wäre kein Spiel, wäre es auf Gerechtigkeit ausgerichtet. Damit wäre alles gesagt. Fast alles: „Es kommt darauf an, dass man ein Tor mehr schießt als der Gegner.“ Diese romantische Einsicht hat vor mehr als 20 Jahren der aktuelle Manager des FC Augsburg, Stephan Reuter, sehr verhalten, fast schüchtern formuliert – auf italienisch, damals als Spieler in Diensten von Juventus Turin. Der Ball muss ins Tor: mit dem Kopf, dem Fuß oder der Hand Gottes, einmal mehr als beim Gegner. Das ist alles.