Das Fußballspiel ist eine Metapher für grundloses Scheitern
Die aktuelle Bundesligasaison hat ihr erstes Drittel beinahe hinter sich. Die ersten beiden Plätze sind ausgemacht, die letzten auch. So schien es bis zum gestrigen Samstag. Vorne blieb alles wie gehabt, aber die Tür des direkten Abstiegs hat sich wieder weit geöffnet, und zwar für die halbe Liga. Dazu gehört natürlich der FCA, aber auch die Mainzer, deren Trainer Thomas Tuchel mit biblischer Ernsthaftigkeit nach Gerechtigkeit strebt.
Von Siegfried Zagler

Den Geruch des Abstiegs aus den Kleidern schütteln, Veh und Tuchel eine Nase drehen
„Es handelt sich um ein richtungsweisendes Spiel.“ Selten war dieser abgedroschene Satz, war diese Floskel zutreffender als für das heutige Spiel in der SGL-Arena. Sollten die Augsburger als Sieger hervorgehen, dann würden sie sich für mehr als eine Momentaufnahme am Dock der großen Player anflanschen, schüttelten vorübergehend den lähmenden Geruch des Abstiegs aus den Kleidern und drehten zwei ehemaligen Augsburger Trainern genussvoll eine Nase: Armin Veh und Thomas Tuchel, der heute wiederum alle Register ziehen wird, um den Stochastikern eine Nase zu drehen. Thomas Tuchel fühlt sich nach Niederlagen schnell schuldig, jedenfalls schuldiger als für Siege verantwortlich, wie er kürzlich in einem Interview mit der Süddeutschen seine Schwäche zum Ausdruck brachte, nämlich den Fußballsport und seinen Beruf nicht als Allegorie zu verstehen, sondern für die Wirklichkeit selbst zu halten, was immerhin verständlich scheint für jemand, der von Beruf Fußballtrainer ist.
Die vollkommene Fußballwelt als Gegenentwurf
Tuchels öffentliche Äußerungen lassen nach Siegen wie nach Niederlagen im Subtext erkennen, dass sich Fußballlehrer Tuchel in 90minütigen Handlungseinheiten nach Gerechtigkeit sehnt. Wenn der Fußball weder dazu taugt, die Welt zu verbessern noch sie zu erklären, dann sollte er sie ersetzen: als bessere, als als wahre, als vollkommene Welt, in der es gerecht zugeht. Die Bundesliga als platonischer Gegenentwurf zu den nach Gerechtigkeit strebenden Zivilgesellschaften, die in ihrem Streben nach Gerechtigkeit scheitern. – Hört man Tuchel genau zu, dann schimmert diese Haltung im Subtext seiner Kommentierungen.
Tuchel scheint nicht der Wirklichkeit eines Spiels auf die Schliche kommen zu wollen, er sehnt sich danach, die Wahrheit zu erkennen und landet stets bei der Gerechtigkeit. Falls sich Thomas Tuchel für komplexe Lebenszusammenhänge interessieren sollte, die über den Erkenntnishorizont eigener Erfahrung hinausgehen, dann besteht immerhin die Möglichkeit, dass Tuchel ahnt, dass Fußball nur eine Metapher für das Leben ist. Eine Metapher für grundloses Scheitern und die großartige Macht des Zufalls, ein Sinnbild für die Unverhältnismäßigkeit der Schöpfung und die Tristesse der Sinnlosigkeit sowie ein konkretes Abbild für die gnadenlose Wucht des Glücks und die Leere danach. Wer des Lesens mächtig ist, kann all das aus 90 Minuten Fußball herauslesen. Er kann es aber auch lassen und Fremderfahrung in der Kunst suchen. Das ist sicherer.
Fußballspiele haben nämlich selten über das Ergebnis und die Tabelle hinaus eine Bedeutung und einen ernstzunehmenden Erkenntniswert; ein Spiel wäre kein Spiel, wäre es auf Gerechtigkeit ausgerichtet. Damit wäre alles gesagt. Fast alles: „Es kommt darauf an, dass man ein Tor mehr schießt als der Gegner.“ Diese romantische Einsicht hat vor mehr als 20 Jahren der aktuelle Manager des FC Augsburg, Stephan Reuter, sehr verhalten, fast schüchtern formuliert – auf italienisch, damals als Spieler in Diensten von Juventus Turin. Der Ball muss ins Tor: mit dem Kopf, dem Fuß oder der Hand Gottes, einmal mehr als beim Gegner. Das ist alles.
