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Montag, 25.08.2025 - Jahrgang 17 - www.daz-augsburg.de

Chatkontrolle: Europa steht am Scheideweg der digitalen Privatsphäre

Mit neuem Schwung ist ein besonders umstrit­tenes Vorhaben auf die EU-Agenda zurück­gekehrt: die sogenannte Chat­kontrolle. Offiziell soll der Gesetz­entwurf den Kampf gegen Darstel­lungen von Kindes­miss­brauch stärken, doch die vorge­schla­genen Mittel könnten digitale Grundrechte in Europa unwider­ruflich verändern.

Von Bruno Stubenrauch

Unter der am 1. Juli von Dänemark über­nom­menen Rats­präsident­schaft wird die seit 2022 andauernde, fest­ge­fahrene Debatte um eine entspre­chende Verord­nung (DAZ berichtete) wieder mit Hoch­druck geführt. Im Kern sieht der Plan der EU vor, private Kommu­nikation über das sogenannte „Client-Side-Scanning“ direkt auf den Geräten der Nutzer zu über­wachen.

Tabubruch mit gravierenden Folgen

Das würde bedeuten, dass jede Nachricht und jede Datei durch­leuchtet wird, bevor sie durch die Ende-zu-Ende-Verschlüs­selung geschützt wird. Damit würde diese funda­mentale Sicher­heits­techno­logie, die das Kommu­nika­tions­geheimnis schützt, de facto aus­ge­hebelt – ein beispiel­loser Tabubruch.

Datenschützer und Bürger­rechtler warnen eindring­lich vor den Folgen. Sie bezeichnen die geplante Maßnahme als Einstieg in eine anlass­lose Massen­über­wachung und sehen darin einen Verstoß gegen das Recht auf Privat­sphäre. Die gesamte Bevöl­kerung würde unter General­verdacht gestellt.

Massives Risiko falsch positiver Treffer

Bald falsch positiv? Nektarine

Unschuldige Bürger könnten durch fehler­hafte Algo­rithmen auch tat­säch­lich unter Verdacht geraten. Wird eine Datei irr­tüm­lich z.B. als porno­grafi­sches Material ein­ge­stuft, meldet die Software dies auto­ma­tisch an Behörden – mit Konse­quenzen wie Haus­durch­suchungen, Beschlag­nahme von Handys und Ver­neh­mungen. Die Betrof­fenen erfahren davon erst, wenn die Polizei vor der Tür steht, ohne jede Mög­lich­keit einer eigenen Vorab­prüfung. Das unter­gräbt funda­men­tale rechts­staat­liche Prin­zipien.

Opt-in“ als falsche Wahl?

Auch Messenger­dienste wie Signal, Threema und WhatsApp positio­nieren sich vehe­ment gegen die Pläne. Signal und Threema haben sogar ange­kündigt, den euro­päischen Markt zu ver­lassen, sollte die Ver­ord­nung in Kraft treten.

Beliebte Handy-Messenger

WhatsApp warnt vor den weit­rei­chen­den Risiken und betont, dass Ver­schlüs­se­lung und Chatkontrolle unver­einbar sind. In der Dis­kus­sion ist ein „Opt-in“-Modell: Wer weiter­hin Bilder, Videos und Links ver­senden möchte, müsste der voll­stän­digen Über­wachung seiner Chats zustim­men. Wer hin­gegen seine Privat­sphäre schützen will, wäre auf reine Text­nach­richten be­schränkt, für Kritiker ein er­zwun­gener Deal: ent­weder Ver­trau­lich­keit oder Funktio­nalität. Sie sehen darin eine Art Erpres­sung, die WhatsApp-Nutzer dazu drängen soll, ihr Recht auf vertrau­liche Kommu­ni­kation auf­zu­geben.

Ringen um Stimmen im EU-Rat

Für ein Inkrafttreten der Chat­kon­trolle ist eine soge­nannte quali­fi­zierte Mehr­heit nötig – minde­stens 15 von 27 Mit­glieds­staaten, die zugleich 65 Prozent der EU-Bevöl­kerung reprä­sen­tieren. Dänemark behauptet, bereits 19 Staaten hinter sich zu haben, darunter Frank­reich und mehrere süd- und ost­euro­päische Länder, die zuvor skeptisch waren. Deutsch­land gilt inzwi­schen nicht mehr als klar ableh­nend, sondern nur noch als „un­ent­schlossen“. Eine Ent­haltung Berlins könnte die Tür für eine Mehr­heit öffnen.

Dem gegenüber stehen datenschutzstarke Staaten wie Österreich, die Niederlande und Irland, die die Pläne als gravierenden Verstoß gegen Grundrechte betrachten.

Es könnte sehr schnell gehen

Bis Mitte September müssen die Mit­glieds­staaten ihre Posi­tionen fest­gelegt haben. Die ent­schei­dende Abstim­mung im Rat soll bereits am 14. Oktober 2025 statt­finden. Käme die Chat­kon­trolle, würde sie als EU-Ver­ord­nung unmittel­bar in allen Mit­glieds­staaten gelten, ohne dass sie noch national in Gesetze um­gesetzt werden muss.