Brechtfestival: Beklemmung im Exilhaus
Das sensemble Theater ließ sich rund um das Thema „Exil“ einiges einfallen.
Von Halrun Reinholz
„Schwarze Liste – Exilhaus“ – schon der Titel des Stückes im sensemble Theater wirkt nicht gerade heimelig. Und dann noch die Ankündigung: „Die Flucht ins Exilhaus ist nur zwischen 19 und 20 Uhr möglich. Gültige Reisepapiere oder genügend Dollars sind erforderlich.“ Oha. Die erste Sperre steht schon an der Straßenecke. Man wird durchgewinkt. Dann erhält man an der Kasse mit der Eintrittskarte einen Laufzettel, der einen anweist, sich zu bestimmten Uhrzeiten in bestimmten Räumen einzufinden. „Verhörraum“ steht da. Oder „Massenunterkunft“. Und eine Aufgabe hat man auch: Einen Asylantrag stellen. Oder: Georg Büchner denunzieren, der steckbrieflich gesucht wird. Dann durchschreitet man einen Vorhang aus Zeitungspapier-Streifen und gelangt in eine eigene Welt, ebenfalls mit Zeitungen tapeziert und anscheinend von Gestalten mit weißen Masken bevölkert, die immer wieder zu sehen sind.(Ausstattung: Architekturstudenten der Hochschule Augsburg). Aber halt, zunächst steht da ein militärisch auftretender Mensch mit dunkler Sonnenbrille (nach dem ersten Schock erkennt man Birgit Linner vom Theaterensemble). Der möchte den Ausweis sehen und prüft ihn genau. Noch lächelt man wissend, doch einstecken braucht man den Ausweis gar nicht erst wieder, denn ein paar Schritte weiter steht wieder jemand, redet in einer fremden Sprache (es klingt nicht freundlich), prüft den Ausweis und leuchtet mit einer Taschenlampe die Gesichtszüge ab. Da macht sich schon mal Beklemmung bemerkbar und Erleichterung bei dem Gedanken, dass dies „nur“ ein Theaterabend ist.
Mit Freude findet man den Weg zur Bar und möchte sich auf den Schreck ein Glas Wein gönnen – doch leider kann man nur mit Dollar bezahlen und die bekommt man in der Amtsstube. Also Nummer ziehen, geduldig warten. Der Mann hinter dem Schalter schaut streng, spricht auch wieder eine unverständliche Sprache und pfeift einen sofort zurück, wenn man den Strich vor dem Schalter überschreitet. Aber dann hat man doch seine Dollar und kann damit zumindest mal das Nötigste bezahlen. Solche Szenarien kennt jeder, der schon mal in Länder gereist ist, wo die Zerberusse an der Grenze und in den Amtsstuben ihre Macht kennen und ausspielen und wo man sich automatisch möglichst unauffällig benimmt. Weit größer ist die Verunsicherung, wenn man nicht nur Tourist ist, sondern Bittsteller, Exilant, der darauf angewiesen ist, irgendwo Unterschlupf zu finden und der zudem keinen Schimmer von der Sprache hat, die auf ihn einprasselt. Der „Asylantrag“ ist in fremden Sprachen (in unserem Fall wohl arabisch) abgefasst mit einer skurrilen Übersetzung auf der Rückseite und der gestrenge Militär am Schalter lässt sich lange bitten („Bitte, bitte, ich hab zwei kleine Kinder!“), bevor er den Stempel „Genehmigt“ auf das Formular drückt. Man spielt die Inszenierung mit und genau das ist die Absicht des Projekts, das den Zuschauer auch emotional ins Geschehen führt.
Die drei „Termine“ auf dem Ablaufzettel sind Veranstaltungsorte. In der „Massenunterkunft“ beklagen sich die vermeintlichen Zimmernachbarn über das einfallslose Essen, über das Elend und über die Hoffnungslosigkeit ihrer Situation. Daniela Nehring illustriert das anhand von Exilanten-Texten mit Gitarrenbegleitung von Serge Davidov. Texte von Brecht sind zu erkennen, von Wolf Biermann, aber auch Mascha Kalekos Heimweh-Gedicht („Nur das Weh, es blieb/Das Heim ist fort“). Mitten in die Nostalgie platzt eine Razzia der Wachmänner, die mit Taschenlampen unter die Betten leuchten. Mascha Kaleko, prominente Exilantin, litt unter ihrem Exil in Jerusalem, wo sie weder menschlich noch literarisch eine Heimat fand und nach dem Tod ihres Mannes, umgeben von den Geistern der Erinnerung, völlig einsam lebte. Ihre Wohnung ist einer der Veranstaltungsorte und die Zuschauer erhalten Masken, um als „Geister“ zu verfolgen, wie die Protagonistin zwischen Tanz, Wein und Melancholie inmitten ihrer Textfragmente ruhelos umherstreift. Leider war dieser Teil sehr stumm, Mascha Kaleko hätte da sicher passende Texte zu bieten gehabt. Auch so aber eine Wahrnehmung von Exil, die nahe geht. Der Weg zu Mascha Kaleko führte am „Versteck“ Georg Büchners vorbei, ein Exilant aus ganz anderer Zeit, der als Geist durch das Haus schwebte und aus seinen Werken zitierte. Ob ihn wohl jemand gemäß Arbeitsauftrag denunziert hat? Viel Text gab es dafür im Verhörraum. Verhört wurde Bertolt Brecht von einem Militär in Phantasie-Uniform. (Nicht zufällig wurden Bilder des McCarthy-Verhörs vor Beginn der Aufführung an die Wand projiziert). Posthum erhoffte man sich Aufschluss über die Gesinnung des Dichters – war er jetzt Kommunist oder nicht? Doch Brecht argumentiert mit seinen Gedichten und bringt den Ermittler damit zur Weißglut. Ein fulminanter Schlagabtausch der beiden sensemble-Schauspieler Florian Fisch und Ralph Jung über Freiheit (und Interpretierbarkeit) von Kunst und Gesinnung.
Das ungewöhnliche Konzept des Abends (eine Gemeinschaftsarbeit von Gianna Formicone, Anne Schuester, Nora Schüssler und Sebastian Seidel) kam an. 57 Mitwirkende waren nötig, um die Kulturfabrik für drei Vorstellungen zum „Exilhaus“ werden zu lassen – unter anderem sieben Asylbewerber oder Asylanten aus Nigeria, Indien und Afghanistan neben vielen anderen Statisten. Ein Aufwand, der nur im Rahmen eines Projekts wie dem Brechtfestival zu leisten ist. Das Fazit der Zuschauer: Betroffenheit und Erleichterung, aber es blieb auch die Beklemmung, was denn wäre, wenn man selbst plötzlich in der Situation des Exilanten wäre. Wie wir aus der Geschichte wissen, kann so etwas schnell überall passieren.