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Donnerstag, 15.08.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

“Bei den Dokumenten handelt es sich um einen Bestand an Materialien, der der nationalen und internationalen Brecht-Forschung schon bekannt war”

Dr. Helmut Gier im DAZ-Interview

Der ehemalige Leiter der Staats- und Stadtbibliothek sah sich unlängst öffentlichen Attacken ausgesetzt. Gegenstand der Erregung: Ein Familienalbum mit Brecht-Fotos und anderen fotografischen Dokumenten, die angeblich unveröffentlicht der Brecht-Forschung und der Öffentlichkeit vorenthalten wurden. Dr. Helmut Gier war 27 Jahre Leiter der Staats- und Stadtbibliothek und befindet sich seit Kurzem im Ruhestand. Das Album wurde nach Giers Pensionierung als “entdeckt” und als “Sensation” bezeichnet. Dies wollte die DAZ hinterfragen und ließ Helmut Gier zu Wort kommen. Gier, der große Verdienste in der Augsburger Brecht-Forschung zu verzeichnen hat, stellt im DAZ-Interview seinen Standpunkt dar.

Dr. Helmut Gier

Dr. Helmut Gier


DAZ: Herr Gier, Sie sahen sich zuletzt in Ihrer Eigenschaft als ehemaliger Leiter der Staats- und Stadtbibliothek unverblümten Vorwürfen ausgesetzt. In der Augsburger Allgemeinen wurde die Auffassung laut, Sie hätten wichtige Dokumente der Öffentlichkeit vorenthalten. Dabei geht es in Teilen um einen Brecht-Nachlass, der sich 25 Jahre in einem Panzerschrank im Keller Ihres Hauses befand. Darunter unveröffentlichte Brecht-Fotos, die der Augsburger Brecht-Forscher Jürgen Hillesheim als als „sensationell“ bezeichnete. Wie kann es sein, dass diese „Sensation“ erst 25 Jahre nach Erwerb ans Licht der Öffentlichkeit kam?

Gier: Bei den Dokumenten, die ich angeblich der Öffentlichkeit vorenthalten habe, handelt es sich um einen Bestand an Materialien, der der nationalen und internationalen Brecht-Forschung schon bekannt war, als ich zum ersten Mal von einem berühmten Augsburger Dichter namens Brecht hörte. Schon in einer der ersten bebilderten und der mit einer Auflage von mehreren hunderttausend Exemplaren meistverbreiteten Biographie Brechts, der Rowohlt-Monographie von Marianne Kesting aus dem Jahr 1959 heißt es auf der letzten Seite: “Besonderer Dank sei Herrn Prof. Walter Brecht ausgesprochen, der uns einige Bilder aus Familienbesitz überließ.” Seit dieser Zeit haben eine Reihe bedeutender Brecht-Forscher wie Werner Hecht oder Werner Frisch diesen Bestand noch in Darmstadt eingesehen und eine Reihe von Fotos daraus veröffentlicht, Brechts Bruder Walter selbst hat sein 1985 erschienenes Erinnerungsbuch “Unser Leben in Augsburg, damals” natürlich mit 12 Fotos aus seinem Besitz illustriert, bevor ich überhaupt erst Leiter der Staats- und Stadtbibliothek wurde. Nach dem Tode von Walter Brecht ging es darum, diesen Teil des Nachlasses für die Öffentlichkeit zu sichern und wenn möglich nach Augsburg zu holen. Darauf, dass mir dies in einem schwierigen Beziehungsgeflecht zwischen den Nachkommen Walter Brechts, den Bertolt-Brecht-Erben und dem Brecht-Archiv und ohne ausreichende städtische Finanzmittel gelungen ist, bin ich heute noch sehr stolz und die Brechtstadt Augsburg müsste mir dafür eigentlich dankbar sein.

DAZ: Von „Zensur aus Nachlässigkeit“, wovon der Literaturwissenschaftler Dirk Heißerer sprach, kann also nicht die Rede sein, sondern von einer Priorisierung Ihrerseits, wenn ich das richtig interpretiere. Gehen Sie aber da als Bibliothekar nicht ein wenig zu weit, wenn Sie solche Einschätzungen vornehmen?

“Die Forschung sah hier keinen vordringlichen Handlungsbedarf mehr”

Gier: Immer wenn die Forschung auf diesen Teilnachlass zurückgreifen wollte, habe ich dies ermöglicht und gefördert. Bibliotheken und Archive können nur Anregungen geben, aber nicht bestimmen, womit sich die Forschung beschäftigt. Mit Werken wie dem genannten von Marianne Kesting, von Werner Frisch und K. W. Obermeier “Brecht in Augsburg” und Werner Hecht “Brecht in Bilddokumenten” sowie Walter Brechts Erinnerungen sind hunderte von Fotos zum jungen Brecht und seinem Umfeld veröffentlicht worden, so dass die wissenschaftlichen Bemühungen um die photographische Dokumentation des Lebens Brechts zu einem gewissen Abschluss gekommen war. Die Forschung sah hier insgesamt keinen vordringlichen Handlungsbedarf mehr. Dies gilt auch für den damaligen Leiter des Brecht-Archivs, Gerhard Seidel, der den Nachlass in Darmstadt eingehend studierte und beim Ankauf eine dankenswerte vermittelnde Rolle einnahm, mich aber nie auf Fotos daraus ansprach.

DAZ: Warum spricht der Augsburger Brecht-Forscher Hillesheim dann aber indirekt seinem ehemaligen Chef die Kompetenz der Relevanz-Feststellung ab, wenn er von „sensationellen Fotos“ spricht.

“Es handelte sich um den Rest, der bei strenger Auswahl unberücksichtigt blieb”

Gier: Grundsätzlich ist es so, dass die von Herrn Hillesheim als “sensationell” bezeichneten Fotos von anderen bedeutenden Brecht-Forschern wie Werner Hecht und Walter Brecht selbst als nicht veröffentlichenswert und somit minder wichtig angesehen wurden, es handelt sich also um den Rest, der bei strenger Auswahl unberücksichtigt blieb.

DAZ: Mit Verlaub, wäre es nicht einfacher, diesen Vorgang als einen „Fehler“ zu bezeichnen? Immerhin könnte man ja zu den Posen des jungen Brecht festhalten, wie sich Brecht als Künstler bereits sehr früh selbst inszenieren wollte. Anders gesagt: Es wäre doch immerhin auch denkbar, dass es von anderen Betrachtern andere Einschätzungen als die von Werner Hecht und Walter Brecht gibt.

Gier: Die Bedeutung von noch nicht veröffentlichten Fotos ist immer nur vor dem Hintergrund der bereits veröffentlichten Fotos zu bewerten. Ich darf von mir behaupten, dass es nur wenige Brecht-Kenner auf der Welt gibt, die einen so umfassenden Überblick über alle Bilddokumente besitzen wie ich. Für das Ausprobieren von Künstlerposen beim jungen Brecht liegen jedenfalls schon eindrucksvollere veröffentlichte Beispiele vor.

DAZ: In einer Artikelserie der Augsburger Allgemeinen werden die Fotos aber so dargestellt und beschrieben, als würden sie die “neuesten Geheimnisse von Paris” offenbaren. Wie geht das zusammen?

“Wirklich Neues bringen die Bilder sowie die Ausführungen dazu nicht”

"Befriedigung der Schaulust und Beschwörung des Lokalkolorits": Dirk Heißerer (links) und Kurt Idrizovic beim "Brecht-Brunch"

"Befriedigung der Schaulust und Beschwörung des Lokalkolorits": Dirk Heißerer (links) und Kurt Idrizovic beim "Brecht-Brunch"


Gier: Wirklich Neues bringen die Bilder mit der Großmutter väterlicherseits oder des Bruderpaares Eugen (=Bert) und Walter sowie die Ausführungen dazu nicht. Schon Walter Brecht veröffentlichte 1985 in seinen Erinnerungen zwei Fotos der Großmutter in Achern, eines zusammen mit ihrem Mann und eine Porträtaufnahme. Letztere rahmte er ebenfalls mit dem Gedicht Brechts “Der Großmutter zum 80. Geburtstag” ein. Ein halbes Dutzend Aufnahmen der Brecht-Brüder enthalten bereits die Bilddokumentationen von Werner Frisch und Werner Hecht. Man kann auch das 7. , 8. und 9. Foto der Brüder und das dritte und vierte der Großmutter für interessant halten, doch die Familienverhältnisse Brechts sind seit langem bekannt und neue Einsichten in die geistige und literarische Entwicklung des Dichters und das Werden der Autorpersönlichkeit vermitteln sie nicht. Letztlich tragen die neu veröffentlichten Fotos doch nur zur Befriedigung der Schaulust und bestenfalls ein wenig zur Beschwörung des Zeit- und Lokalkolorits bei.

DAZ: Dirk Heißerer hat den Vorwurf erhoben, Sie hätten mit „ihrem merkwürdigen Verschweigen“ verhindert, dass man eventuell noch Zeitzeugen zu den Fotos hätte befragen können? Was sagen Sie dazu?

“Die Fotos gehören zum Bekanntesten, was es an Bilddokumenten zum jungen Brecht gibt”

Gier: Wie schon ausgeführt, gehören die Fotos aus dem Besitz von Walter Brecht zum Bekanntesten, was es an Bilddokumenten zum jungen Brecht gibt. Insofern stimmt die Voraussetzung des Vorwurfs nicht. Grundsätzlich ist zu sagen, dass zum Zeitpunkt des Ankaufs 1989 die Zeit schon vorbei war, wo man echte Zeitzeugen der Kindheit und Jugend Brechts in Augsburg hätte befragen können. Die hätten dann ja alle 90 Jahre und älter werden müssen, Walter Brecht und Paula Banholzer zum Beispiel starben aber 1986 und 1989. Selbst für die von uns umgehend in Angriff genommene, 1992 erschienene Ausgabe der Briefe Brechts an Paula Banholzer konnten wir keine Zeitzeugen mehr befragen. Das macht den unvergänglichen Wert des Werks von Werner Frisch und K. W. Obermeier “Brecht in Augsburg” aus, dass sie eben in den sechziger Jahren viele Zeitzeugen interviewen konnten. Mein Amtsantritt im Oktober 1985 kam da schon zu spät, dieses Versäumnis des offiziellen Augsburg war mir immer schmerzlich bewusst.

DAZ: Laut Satzung der Brecht-Forschungsstelle heißt es, dass diese Einrichtung die Aufgabe habe, die Augsburger Brechtsammlung zu erschließen und öffentlich zugänglich zu machen. Ein Satz von Ihnen dazu?

Gier: Seit der Präsentation des Ankaufs des Teilnachlasses, der in der Öffentlichkeit breites Echo fand, wurde jede sich bietende Gelegenheit genutzt, in Ausstellungen, Editionen und Veröffentlichungen wie “Dichternachlässe in  Regionalbibliotheken” auf diesen Bestand hinzuweisen. Alle Gedichte und Briefe daraus sind in die “Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe” der Werke Brechts aufgenommen und damit der Öffentlichkeit zugänglich. Daneben habe ich energisch die EDV-Erschließung der Bestände vorangetrieben, so dass die gesamte Primär- und Sekundärliteratur der Brecht-Sammlung über die Netze weltweit recherchierbar ist. Aus diesem Bestreben heraus habe ich noch nach meiner Pensionierung an der Ausstellung in der Stadtsparkasse “Brechtschätze in der Stadt- und Staatsbibliothek” mitgearbeitet. Zu dieser Ausstellung gab es einen Katalog, in dem immerhin ein Viertel der beschriebenen Exponate aus dem Nachlass von Walter Brecht veröffentlicht wurde.

DAZ: Herr Gier, vielen Dank für das Gespräch.

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Fragen: Siegfried Zagler