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Freitag, 19.04.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Augsburger Stadtrat: Ein instabileres Kommunalparlament hat es noch nie gegeben

Der Augsburger Stadtrat verändert sich bezüglich seiner politischen und personellen Konfiguration am laufenden Band, wie der kürzliche Parteiaustritt von Alexander Süßmair belegt. Dass das keine zufällige Kette von individuellen Ausreißern ist, sondern mit dem aktuellen Gesamtkonstrukt des Augsburger Stadtrats zu tun hat, ist eine beunruhigende These.

Von Siegfried Zagler

Süßmair war 2014 für die Linken in den Stadtrat eingezogen. Von den 60 Stadträten, die sich im Mai 2014 zur Konstituierung des Stadtrats im Augsburger Rathaus einfanden, sind zwei sehr früh ausgeschieden und durch Nachrücker ersetzt worden (Thorsten Kunze kam für Alexander Bolkart bei der AfD und Dimitrios Tsantilas für Hermann Weber bei der CSM). Neun Stadträte haben innerhalb der laufenden Stadtratsperiode ihr ursprüngliches Lager verlassen, zwei davon blieben parteilos (Kunze und Süßmair), einer gründete mit der WSA eine neue Wählerliste (Peter Grab), sechs wechselten das politische Lager: Tsantilas und Rolf Rieblinger wechselten von der CSM wieder zur CSU zurück, Claudia Eberle wechselte von der CSM zu Pro Augsburg, Thomas Lis von der AfD zu Pro Augsburg, Markus Arnold von der FDP zur CSU und Marc Zander von der AfD zur CSU, deren Fraktionsstärke von 23 Sitzen auf 27 anstieg, während sich eine Partei verabschiedete (FDP), eine Wählerliste (CSM) komplett auflöste und sich die AfD von vier Stadträten auf einen Stadtrat verkleinerte. Diese Vorgänge mögen in verschiedenen Einzelfällen nachvollziehbar und politisch erklärbar sein, die Summe aber machen diese Wechselspielchen zu einem Skandal erster Güte, der sich “Betrug am Wähler” nennt.

Geht man davon aus, dass im Jahr 2018 zwei Stadträte von der CSU zur FDP wechseln werden (Rainer Schaal und Thorsten Große) und dass Cemal Bozoglu und Stephanie Schuhknecht den Sprung in den Landtag schaffen und von Nachrückern ersetzt werden, dann hätten sich vom ursprünglich gewählten Stadtrat vier Stadträte verabschiedet und elf ihre Parteizugehörigkeit verändert. 25 Prozent des gewählten Stadtrats hätte sich somit politisch oder personell verändert. Ein dergestalt instabiles politisches Kommunalparlament hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben. Die Antwort auf die naive Frage, wie das zu erklären sei, mag komplex sein, weil in einigen Fällen narzistische Kränkungen das stärkere Motiv darstellen als politische Differenzen, die nicht mehr zu überbrücken sein sollen. Die Hauptlast an diesem fortlaufenden Wählerbetrug trägt jedoch das aktuelle Stadtratskonstrukt, das Oberbürgermeister Kurt Gribl zu verantworten hat.

Als Augsburgs Oberbürgermeister Kurt Gribl knapp zwei Monate nach der Stadtratswahl 2014 in der Augsburger Allgemeinen die Auffassung vertrat, dass das in erster Linie von ihm geschmiedete „Dreierbündnis“ aus CSU, SPD und Grüne „eindeutig dem Wahlergebnis entspricht“ und dass daraus ein eindeutiger Wählerauftrag resultiere, konnte der Schreiber dieser Zeilen nicht glauben, dass er mit dieser Realitätsverdrehung ungeschoren durchkommt, schließlich war (und ist) an dieser Behauptung alles falsch, was falsch sein kann. Weder die Grünen noch die SPD wurden von ihren Wählern gewählt, um nach der Wahl ein Bündnis mit der CSU einzugehen. Das Gegenteil war der Fall: Die Wähler dieser beiden Parteien haben diese Parteien gewählt, um Kurt Gribl und die CSU abzuwählen. Stefan Kiefer (SPD) hätte sogar lieber ein „Regierungsbündnis“ mit den Linken gebildet (also Rot, Rot, Grün) als dieses Dreierbündnis, das nun ohne Wähler-Legitimation und ohne politische Handschrift und ohne Systematik bald seit vier Jahren die Stadt “regiert” und dabei von einer Verlegenheit in die andere stürzt. Hätte Gribl im Frühjahr 2014 nach Wählerauftrag gehandelt, hätte er dafür gesorgt, dass er Grüne und SPD vom „Regierungslager“ fernhält.

Gribl hätte also zuerst prüfen müssen, ob das bürgerliche Lager mehrheitsfähig ist. Hätte er „sein“ 50-Punkte Papier allen anderen Gruppierungen im Rathaus vorgestellt, hätte er dafür wohl auch bei der CSM, Pro Augsburg und den Freien Wählern Zustimmung gefunden, auch Markus Arnold (FDP) und Christian Pettinger (ÖDP) hätten wenig daran auszusetzen gehabt, hätten sie „mitregieren“ dürfen. Mit der CSM, Pro Augsburg, der FDP, der ÖDP und den Freien Wählern und dem OB wären 34 Sitze zusammen gekommen. Hätte dieses Lager interfraktionelle Verträge geschlossen, um die vorgestellten Projekte abzusichern, hätte Kurt Gribl von einem „Wählerauftrag“ sprechen können.

Die absurde OB-Verdrehung der politischen Realität ist der schwer reparable Geburtsfehler der aktuellen Stadtratsperiode. Ein Fehler, der erstens dazu führte, dass es in einem entpolitisierten Stadtrat nur eine schwache Regierung gibt und zweitens dazu führte, dass es nur eine schwache Opposition gibt, die auf der ehrenamtlichen Arbeit von Einzelpersonen fußt. Wenn es dem Regierungsbündnis schwer fällt zu regieren, weil es sich aus Personen mit unterschiedlichen Weltanschauungs- und Wertsystemen zusammensetzt, dann gilt das Gleiche für die Opposition, die aus unterschiedlichen politischen Lagern besteht und selten geschlossen gegen ein Regierungsprojekt stimmt.

Die gescheiterte Fusion, das undurchsichtige Vorgehen bei der Nichtverlängerung der Theaterintendantin, das chaotische Vorgehen bei der Besetzung des künstlerischen Leiters des Brechtfestivals, das Theater um ein Sozialticket, das inzwischen wieder abgeschafft wurde, ein mit Mühe abgewehrtes Bürgerbegehren zur Theatersanierung, deren Kostenplanung kürzlich im Bayerischen Landtag angezweifelt wurde, der “Schwarzbau” im Stadtmarkt, der unterentwickelte Technologiepark, das Gezerre um den Plärrerumzug, das Scheitern eines Wurm-Antrages zum Verbot von Zirkussen mit Wildtieren, das Vorpreschen der SPD zur Standortfrage des Modularfestivals, eine obskure OB-Verfügung zum Rahmenprogramm des Friedensfestes, die Finanz- und Konzeptarmut bei der Halle 116 wie beim Bahnpark, der erbitterte Widerstand der Grünen beim Neubau des Vereinsheims des Post SV, der “Augsburger Weg” (Stolpersteine), der jahrelang in einer Kommission diskutiert und beschlossen wurde, ehe er sich zu einem hässlichen Politikum entwickelte sowie die Straßenbahnlinie 5, die in Planungsänderungen feststeckt, weit entfernt von einer Genehmigung ist und schon vor der Planfeststellung ihre Spur gewechselt hat. Der Zwist um die Kindertagesstätten, das absurde Theater um einen Süchtigen-Treff. Und kürzlich der Nacht-und-Nebel-Verkauf der Fuggerstraße 12 an einen Schnulzensender, der nun die Innenstadt kulturell beleben soll, während das Museum für Gegenwartskunst im Niemandsland vor sich hinstirbt.

Ein besonders interessantes Beispiel der Konzeptarmut der Stadtregierung ist die Tarifreform der Verkehrssparte der Augsburger Stadtwerke, die von der Stadtregierung mit großer Mehrheit gegen 17 Stimmen (darunter zahlreiche SPD-Stadträte) beschlossen wurde, um die Verluste dieser Sparte zu verringern. Eine Reform, gegen die Augsburger Bürger nun Sturm laufen, weil sie als ungerecht und nicht zeitgemäß empfunden wird.

Dies sind nur einige Beispiele, die Zeugnis dafür ablegen, dass die Augsburger Stadtregierung immer schwer daran zu schaffen hatte, ihre weltanschaulichen Differenzen und damit ihre Entscheidungsfindungen zu klären, um Politik zu machen, die als Politik oder zumindest als politisches Konzept zu verstehen ist. Immer stärker verfestigt sich der Eindruck, dass Projekte nach Gusto der Referenten ohne öffentliche Debatte auf den Weg gebracht wurden und werden, deren systemische Gemeinwohlabsicht nicht schlüssig erörtert wurde und wird.

In diesem politischen Vakuum sind Tabubrüche möglich, die in funktionalen demokratischen Strukturen nicht durchsetzbar wären, wie zum Beispiel die Größenordnung der galoppierenden Verschuldung der Stadt, die sich 2016 von 303 Millionen auf 426 Millionen Euro im Jahr 2017 erhöhte. Ein Rekordschuldensprung in der Geschichte der Stadt Augsburg – trotz sprudelnder Steuereinnahmen, die in der Hauptsache den Schlüsselzuweisungen des Freistaates geschuldet sind. Die Augsburger Grünen sind 2014 mit einem Programm in den Wahlkampf gezogen, das eine nachhaltige Finanzpolitik propagierte und eine weitere Neuverschuldung ausschloss. Die CSU versprach im Wahlprogramm, auf Steuererhöhungen zu verzichten, um schließlich die Grund- und Gewerbesteuererhöhung der Finanzreferentin mitzutragen – wie gesagt: in Zeiten sprudelnder Steuereinnahmen.

Dass Stadträte aus dem Regierungsbündnis wie Christian Moravcik (Grüne), Rainer Schaal und Thorsten Große (beide CSU) diese Politik skandalisieren oder nur widerwillig mittragen und die SPD intern zwischendurch mit Koalitionsbruch droht, ändert nichts daran, dass eben diese Politik im Stadtrat (fast) immer geräuschlos eine Mehrheit fand und findet.

Wie und wohin sich die Stadt Augsburg entwickelt, muss wieder Gegenstand politischer Debatten werden, die öffentlich stattfinden und nachvollziehbar sind. Wie notwendig das in einer offenen Gesellschaft im Großen und Ganzen ist, zeigte die öffentliche Debatte um ein sogenanntes “C-Thema” im Kleinen: Als die Stadt (in Person von Dirk Wurm) in Oberhausen drei Informationsabende zum Thema “Süchtigentreff” veranstaltete, veränderte sich im Lauf der Veranstaltung das Verhältnis von Sender und Adressat: Nicht die Bürger wurden von der Stadt informiert, sondern die Stadt von ihren Bürgern.