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Samstag, 26.10.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Augsburg kann Brecht

Ein Nachtrag zur Inszenierung der „heiligen Johanna“ im Großen Haus

Von Frank Heindl

Johanna:

Darum, wer unten sagt, dass es einen Gott gibt und ist keiner sichtbar /

Und kann sein unsichtbar und hülfe ihnen doch /

Den soll man mit dem Kopf auf das Pflaster schlagen /

Bis er verreckt ist.


(Bertolt Brecht: Die Heilige Johanna der Schlachthöfe)

Kurze Vorbemerkung

Ich habe bis zu diesem Monat nahezu die komplette Augsburger Theatersaison sowie das komplette Brechtfestival verpasst. Auch die politischen Diskussionen – besser: das politische Schweigen – zum Thema der Sanierung des Stadttheaters kenne ich nur aus der DAZ und aus „der Zeitung“.

Statt Internationalität nur Peymann

Das – mir nur von der Website bekannte – Programm des diesjährigen Brechtfestivals schien mir in einem wichtigen Punkt ein herber Rückschritt im Vergleich zum Vorjahr: Das ungarische Katona Jószef Theater mit seiner mutigen Adaption des „Lebens Eduards des Zweiten“ und das neapolitanische Teatro Elicantropo mit einer slapstickhaften „Mutter“ standen 2014 für den Versuch, aktuelle Brecht-Produktionen aus anderen Ländern nach Augsburg zu holen. Diesmal gab’s nur eine inländische und – dem Hörensagen nach – „typisch konservative“ Claus-Peymann-Inszenierung aus Berlin. Die Gründe für diese Änderung am Konzept wären noch zu recherchieren. Schade jedenfalls.

Aus Augsburg eine bemerkenswerte „Johanna“

Klassenkampf mit Rechenschieber: Sebastian Baumgart Brechts „Johanna“ demonstriert als Cridle, wie Börsenbetrug funktioniert.

Klassenkampf mit Rechenschieber: Sebastian Baumgart demonstriert als Cridle, wie Börsenbetrug funktioniert.


Nun, mit Verspätung, endlich die Augsburger Eigenproduktion gesehen: „Die heilige Johanna der Schlachthöfe.“ Und damit, um das gleich mal zusammenzufassen, eine streitbare, eine diskutierenswerte, eine eigenständige Inszenierung von Christian Weise. Ein außergewöhnliches Bühnenbild (Julia Oschatz), außergewöhnliche Kostüme (Andy Besuch), bemerkenswerte Musik (Jens Dohle), eine rundum stimmige Ensembleleistung. Und viele Fragezeichen – wie sich das gehört!

Die „Johanna“ ist wohl eines der politischsten, der eindeutigsten Stücke von Brecht. Eines der direktesten, was die Darstellung kapitalistischer Wirklichkeit aus marxistischer Sicht anbelangt. Ein Lehrstück mit dem Rechenschieber sozusagen: Börsentricks für Anfänger zum selber Nachprüfen. Mit durchgängigen Botschaften: Die Versprechungen der Kirche sind Lug und Betrug, ihre Verkünder stehen immer „über den Kämpfen – also diesseits“, sprich: auf der Seite der Mächtigen. Die Kapitalisten, auch deren gefühlvollere Vertreter, betreiben die „Enteignung aller im Namen des Eigentums“, die Unterdrückten haben das alles auszubaden. Und, ganz kurz und schmerzhaft, kurz vor Schluss aus Johannas Mund und Erkenntnis: „Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht“ – die nicht im Geringsten verklausulierte Aufforderung zur Revolution also, verbunden gar noch mit der Aufforderung, die Köpfe derer, die das gute Leben erst im Jenseits fordern, „auf das Pflaster zu schlagen.“

Ausbeuter und Proletarier – alles Karikaturen

Der Ausbeuter im 5000-Dollar-Kleid: Brigitte Peters als Fleischkönig Pierpont Mauler.

Der Ausbeuter im 5000-Dollar-Kleid: Brigitte Peters als Fleischkönig Pierpont Mauler.


Christian Weise hat dieses alles andere als lustige Stück wie einen Comic inszeniert, lässt uns aber mit der Interpretation ein bisschen allein: All die Pappkulissen und -accessoires – was wollen sie uns sagen? Ist Brechts Stück ebenso zweidimensional wie sie? Sind all diese fetten, dummen Arbeiter verblödete Proletarier, die nur ans Fressen denken? Oder ist die Geschichte der Arbeiterbewegung, der Auflehnung gegen Ausbeutung und Unterdrückung, heutzutage nur noch zum Lachen?

Andererseits: Auch die Ausbeuter sind bei Weise Karikaturen. Ob der intrigante Pierpont Mauler (Brigitte Peters) wirklich ein weiches Herz hat oder ob er das nur vorgibt, um hinterrücks umso rücksichtsloser agieren zu können – das bleibt auf der Bühne des Stadttheaters ebenso offen wie in Brechts Text. So richtig ernst nehmen kann man ihn jedenfalls nicht, diesen Strippenzieher, der sich mal im Cowboyhut, mal im grandiosen 5000-Dollar-Kleid wohlfühlt. Und seinen Makler Slift, der hier als Frau erscheint – soll man den für voll nehmen? Ute Fiedler spielt ihn (sie) überdreht und kreischend, mit nervigem Dauergelächter als nuttiges Hollywood-Flittchen, dem Orgasmus nahe vor Freude über die neue Robe, geil aber auch auf Macht und Dollars.

Der revolutionäre Tod in Zeitlupe

Nervig schrille Comicfigur: Ute Fiedler (links) als machtgeiler Slift mit ihrem Chef Pierpont Mauler (Brigitte Peters).

Nervig schrille Comicfigur: Ute Fiedler (links) als machtgeiler Slift mit ihrem Chef Pierpont Mauler (Brigitte Peters).


Und nochmal andererseits: Diesen Karikaturen von Menschen und Typen nimmt die Karikatur nichts von ihrem Wesen. Mauler sorgt für Arbeitslosigkeit und verschärft die Arbeitsbedingungen, Swift unterstützt ihn dabei – mögen sie noch so clownesk agieren: sie tun doch, was der Kapitalismus erfordert. Vielleicht passt ja beides zusammen? Und für die fetten, in üble, wabbelnde Wurstpellen gekleideten Proletarier gibt es einen drastischen Moment der Menschwerdung: den nämlich, in dem sie von den Gewehren der Mächtigen niedergemäht werden. Plump und grotesk torkeln sie in den Tod – vielleicht deshalb in Zeitlupe, um uns zu zeigen, dass da deformierte menschliche Wesen sterben.

Dieses farbenprächtige Durcheinander aus Comic und Drama, aus dem Mann Mauler, der in Augsburg von einer Frau gespielt wird, und Brechts Herrn Swift, der in Augsburg Frau Swift ist, aus Zahlen und Statistiken auf der Tafel, die den Wahrheitsgehalt von Brechts Thesen illustrieren sollen, aber auch deren mangelnde Durchschaubarkeit deutlich machen – dieses Durcheinander könnten wir als das Durcheinander der kapitalistischen Welt interpretieren; schwer bis gar nicht durchschaubar, ohne klare Trennung zwischen schlau und dumm, zwischen komisch und böse, zwischen Mann und Weib, zwischen Service und Ausbeutung, Religion und Geschäft.

An einem wegrationalisierten Stadttheater geht so etwas nicht

Es macht großes Vergnügen, dieses Stück, in dieser Fassung. Es unterstützt eine der Thesen von Festivalmacher Lang: Dass Brecht mit seinem Theater Spaß machen wolle. Eine andere unterstützt es allerdings gar nicht: Dass Brecht kein Kommunist gewesen sei. In der Gesellschaftsanalyse der „Heiligen Johanna“ ist Brecht Kommunist ebenso wie in ihren drastischen Schlussfolgerungen. Von denen distanziert sich der Autor in keiner Weise – und auch die Inszenierung hat den Mut, dies nicht zu tun. Auch ohne den Rest gesehen zu haben, darf man vermuten, dass die Inszenierung zu den Höhepunkten des diesjährigen Brechtfestivals gezählt hat.

Schließlich noch ein kurzer Satz zur Sanierungsdiskussion: Weises Inszenierung zeigt ein mutiges Stück Theater, das so weder an einer kleinen, noch an einer maroden Bühne spielbar wäre. An einem wegrationalisierten Stadttheater natürlich erst recht nicht. Augsburg kann Brecht – und zwar auf sehr, sehr hohem Niveau. Man möchte so etwas immer und immer wieder sehen. Das sollte uns viel wert sein.

Fotos: Nik Schölzel