Märchenhaftes mit Unbehagen auf der Brechtbühne
Alles, was Kunst kann: Das Spiel der Schahrazad
Eine deutsche Erstaufführung überzeugt auf der Augsburger Brechtbühne, indem sie die Mechanismen der Macht freilegt. Die politische Dimension der Schahrazad kann man auf der Bühne reflektierter und tiefgründiger kaum erzählen.
Von Halrun Reinholz
Die Geschichten der Schahrazad (oder auch Sheherazade) aus 1001 Nacht sind als Inbegriff orientalischer Erzählkunst allgemein wohl bekannt. Der 1961 geborene türkische Autor Turgay Nar gibt mit seinem Stück „Das Spiel der Schahrazad“ der Rahmenhandlung aus einer dem 21. Jahrhundert entsprechenden Sichtweise eine höchst aktuelle politisch-gesellschaftliche Relevanz. Als Regisseur und Übersetzer hat sich Ferdi Degirmencioglu, ein Repräsentant der ersten Gastarbeitergeneration und engagierter kultureller Brückenbauer, dieses 1996 geschriebenen Stückes angenommen, das am Theater Augsburg in deutscher Erstaufführung zu sehen ist.
Schon diese Umstände lassen erahnen, dass es in dem „Spiel der Schahrazad“ nicht allein um die listige Hinhaltetaktik einer klugen Frau geht, mit dem Ziel, die unreflektierte Brutalität des Herrschers zu kanalisieren. Vielmehr beleuchtet das Stück die Ursachen für das Verhalten des Tyrannen. Im Original tötet Shariyar jede Nacht eine Jungfrau, weil seine Frau ihn, und das wird wohl nicht hinterfragt, betrogen hat. In Turgay Nars Stück ist das Verhalten Shariyars keine eigene Entscheidung, sondern die Umsetzung eines Vermächtnisses: Sein Vater soll von der Mutter betrogen worden sein, deshalb muss in einer Art Blutrache an allen Frauen jede Nacht eine Jungfrau aus den Reihen seiner Sklaven sterben. Diese Dimension der Tradierung und Mythenbildung verleiht dem Stück die Tiefe, die die Handlungsweise der Personen bestimmt. Shariyar sieht keinen Sinn in dem Vermächtnis, hat aber nicht die Kraft, das Tradierte anzutasten. Zumal sein Wesir und Berater, der schon bei seinem Vater Berater gewesen ist, den Mythos des betrogenen Über-Vaters stets heraufbeschwört. Die Motivation des Wesirs ist leicht zu durchschauen: Indem er den Sohn von der Realität isoliert, ist er der faktische Machthaber im Staat. Doch er hat nicht mit der Rebellion im Volk gerechnet: Die Sklaven lehnen sich auf, indem sie ihre eigenen Töchter töten und mit deren Blut das Wasser der Brunnen verunreinigen. Der Wesir sieht sich nun mit der Forderung Shariyars konfrontiert, seine eigene Tochter als Jungfrauenopfer zur Verfügung zu stellen. Schahrazad, die kluge und belesene einstige Spielgefährtin Shariyars, entzieht sich dem nicht. Sie steht dem Tyrannen auf Augenhöhe gegenüber und konfrontiert ihn mit seiner eigenen Geschichte.
Ferdi Degirmencioglu ist es gelungen, dem Stück auch in der deutschen Übersetzung seine orientalische Atmosphäre zu erhalten. Bühnenbild (Mitra Nadjmabadi) und Kostüme (Imme Kachel) unterstützen das Konzept der Inszenierung, Märchenhaftes mit Unbehagen, Orientalisches mit Allgemeingültigem zu verbinden, ohne aufdringlich oder folkloristisch zu wirken. Die an Fleischerhaken hängenden Opfer sind stets präsent und auch die immer wieder einsetzende Musik verstärkt den Eindruck eines Thrillers. Für die Schauspieler war die Textfülle zweifellos eine große Herausforderung. Die beiden Hauptcharaktere – Linda Elsner als Schahrazad und Anatol Käbisch als Sahriyar – meisterten ihr facettenreiches Zusammenspiel gekonnt: Der kindisch-verwöhnte Herrscher und die kluge, fast kühl-unnahbare Frau, die bei allem Selbstbewusstsein stets im richtigen Moment Huldigungen loslässt und ihn geschickt manipuliert. Klaus Müller erweist sich als gerissener, mit allen Wassern der Politik gewaschener Wesir, der den Status Quo verzweifelt beibehalten möchte. Marlene Hoffmann als Dunyazad ist (schon rein optisch als Blondine) die ergänzende Hälfte zu Schahrazad. Sie entwickelt sich vom naiven Mädchen zur Helferin, die ihrer Schwester aus dem Hintergrund „zuarbeitet“. Geisterhaft mutet die Rolle des Sklaven Bizeban (Thomas Pratzak) an. Er ist die einzige Person, die Shariyar stets zu Diensten ist (auch bei der „Entsorgung“ der getöteten Jungfrauen), vermeintlich der Ausbund an Loyalität, doch als Geheimnisträger wurden ihm Zunge und Finger abgeschnitten.
Geschickt hat der Autor eine Handlung in der Handlung eingebaut, eine filmische Rückblende sozusagen, die den ehemaligen König, Vater Shariyars (Jan-Pieter Fuhr) und seinen Arzt (Simeon Wutte) zeigt. Wie in einem Krimi wird zuletzt alles klar, doch die Fragen nach den Mechanismen und Verstrickungen der Macht sind ort- und zeitlos, nach wie vor offen und deshalb immer wieder zu ergründen. Die Theaterkunst ist dafür ein Werkzeug mit großer Wirkungsmacht.
Foto: (c) Jan-Pieter Fuhr