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Freitag, 22.03.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

CFS-Debakel: Bauvorschriften verhindern Stehplätze

Nur dank eines hölzernen Provisoriums haben die Eishockeyfans im Curt-Frenzel-Stadion derzeit gute Sicht von der Südtribüne. Dass nachgebessert werden muss ist klar. Aber noch weiß niemand wie. Bei der Recherche ist die DAZ zu einem überraschenden Ergebnis gekommen: Stehplätze hinter dem Tor, die gleichzeitig gute Sicht und vorgeschriebene Sicherheit bieten, gibt es gar nicht.

Vier Expertenteams befassen sich zurzeit mit der Lösung des Sichtproblems im Curt-Frenzel-Stadion: die Stadionarchitekten Hermann + Öttl, eine Gruppe von Pantherfans sowie zwei Gutachterteams, die bis 27. Januar im Auftrag des Stadtrats die Vorschläge dieser beiden Planerteams prüfen sollen. Alle stehen vor dem selben Problem: Die Versammlungsstättenverordnung, die DIN 13200 für gute Sichtverhältnisse und der Wunsch nach möglichst vielen Stehplätzen lassen sich formal nicht unter einen Hut bringen.

Sichtlinien und …

Was gute Sicht ist, regelt die europaweit gültige DIN EN 13200 „Zuschaueranlagen“. Sie enthält verbindliche Kriterien für die räumliche Anordnung von Zuschauerplätzen. Wichtigster Parameter für eine gute Sicht ist der so genannte C-Wert, der in der DIN EN 13200 „Überhöhung“ heißt. Dieser gibt die Sichtlinien- bzw. Augpunktüberhöhung zum Vordermann an – bei Stehplätzen zur übernächsten Zuschauerreihe. 12 cm empfiehlt die DIN, 9 cm sind noch zulässig. Außerdem muss der Blick so steil aufs Eis fallen, dass über die Bande hinweg der so genannte Fokuspunkt sichtbar ist. Auf der kurzen Stadionseite liegt er nach DEL-Anforderungen drei Meter von der Bande entfernt auf dem Eis. Nur so können die Fans die Hinterkante des Tors sehen.

Trägt man alle Parameter auf, ergibt sich eine Höhendifferenz von 41 cm von der ersten zur dritten Stehplatzreihe, also eine erste Tribünenstufe von 80 x 41 cm und eine erste Stehplatzstufe von 40 x 20,5 cm – mit stark ansteigender Tendenz zu den oberen Reihen.

Arithmetik: Fokuspunkt 3 Meter nach DEL + C-Wert 9 nach DIN =

Tribünenstufen ab 41 cm Höhe (Grafik zum Vergrößern anklicken)

… Sicherheit

Auf den Zuschauerplätzen wird allerdings nicht nur gestanden und geschaut. Tribünen müssen über Stufengänge erschlossen und entfluchtet werden. An die Ausbildung der Stufengänge stellt die Versammlungsstättenverordnung (VStättV) aus dem Jahr 2007 strenge Anforderungen. So heißt es dort in § 10 Abs. 8:

  • „¹Stufen in Gängen müssen eine Steigung von mindestens 0,10 m und höchstens 0,19 m und einen Auftritt von mindestens 0,26 m haben. ²Der Fußboden des Durchgangs zwischen Sitzplatzreihen und der Fußboden von Stehplatzreihen muss mit dem anschließenden Auftritt des Stufengangs auf einer Höhe liegen.“

„Höchstens 0,19 m“ heißt, dass sich die Stehplatzstufen aus der oben stehenden Grafik nicht als Fluchttreppenstufen eignen. Die wären an der flachsten Stelle, am unteren Tribünenende, bereits 20,5 cm hoch.

Geht grundsätzlich nicht: Gehstufen und Stehstufen im Gleichschritt bei 25 cm Stufenhöhe wie in der Machbarkeitsstudie der Pantherfans. Blau: Anforderungen der VStättV

Der Ansatz, die (über 41 cm hohen) Tribünenstufen mit drei Treppenstufen zu überwinden, die jeweils niedriger als 19 cm sind, funktioniert nur bei Sitzplätzen, aber nicht bei Stehplätzen. Da kommt es nämlich zur Interferenz zwischen dem Stehstufen-Zwilling und dem Treppenstufen-Drilling. Stolperstellen wären vorprogrammiert (in der folgenden Grafik rot eingefärbt). Jede zweite Stehstufe hätte keinen niveaugleichen Anschluss zum Stufengang, was der VStättV widerspricht.

Stolpern vorprogrammiert: Interferenz zum Stufengang – der Zuschauer mit dem roten Hemd hat ein Problem

„Es gibt kein Stadion mit Stehplätzen, wenn alle Vorschriften eingehalten werden“

Dass die beiden für Stadionbauten wichtigsten und bindenden Vorschriften im Stehplatzbereich nicht kompatibel sind, bestätigte gestern auch der Stadionarchitekt Uwe Schlenker auf Anfrage der DAZ: „Es gäbe kein Stadion, jedenfalls keins mit Stehplätzen, wenn alle Vorschriften eingehalten werden“. Schlenker hat von 2006 bis 2009 die Helios-Arena des ERC Schwenningen umgebaut und prüft derzeit die Machbarkeitsstudie der Pantherfans. Der 46jährige Architekt, dessen drei Söhne Eishockey spielen, ist bekennender Anhänger von Stehplatztribünen: „Dort ist die Atmosphäre ganz anders als in einer Popcorn-Arena“. Von reiner C-Wert-Arithmetik zwecks guter Sicht hält Schlenker, der schon viele Stadien besucht hat, nichts. Viel dramatischer für den subjektiven Seheindruck sei es, wenn man zwischen den Köpfen hindurch, also beim Blick über den Schulterbereich der Vorderleute, die Bande nicht sehen könne.

Schlenker hat es mit viel Überzeugungsarbeit geschafft, vom Bauordnungsamt und den Brandschützern in Schwenningen eine Befreiung für seine extrem steilen Stufengänge zu erhalten. Damals galt allerdings noch eine Versammlungsstättenverordnung, die keine Regelungen zu Stehplätzen enthielt und die Geometrie der Tribünen war Bestand. Trotzdem erhielt Schlenker die Befreiung nur, weil er über eine Evakuierungssimulation nachweisen konnte, dass flüchtende Zuschauer auf Stehrängen sich nicht seitlich zu den Stufengängen bewegen, sondern sich einfach umdrehen und über die Stehstufen der Tribüne direkt nach oben flüchten. Grundsätzlich liege es aber im Ermessen der jeweiligen Bauordnungsbehörde, ob eine Befreiung erteilt werde, „egal ob Hermann + Öttl plant, wir oder wer auch immer“.

„Über Sicherheit wird nicht politisch entschieden“

Dies bestätigte gestern auch Gerhard Schröttle, Leiter des Augsburger Bauordnungsamts. Im Fall eines Befreiungsantrags von den Anforderungen der VStättV werde man eine „sehr sorgfältige Abwägung“ vornehmen. Kommerzielle Interessen würden eine Befreiung nicht rechtfertigen. Wer eine Befreiung beantrage, müsse in jedem Fall Maßnahmen zur Kompensation anbieten. Sicherheit sei ein wesentlicher Bestandteil des Prüfprogramms seiner Behörde, je nach Wichtigkeit des Einzelfalls werde schon mal die Oberste Baubehörde in München eingeschaltet. Man könne Sicherheit auch nicht zum Gegenstand einer politischen Entscheidung machen, so Schröttle: „Die Verantwortung für die Entfluchtung wird man nicht dem Stadtrat zumuten“.

Dass in Augsburg Sicherheitsvorschriften ernst genommen werden, zeigte in jüngster Zeit der Fall der Fluchttreppe im Szenelokal Deeds, die Sperrung der Kongresshalle und die Diskussion um Max 11. Falls es beim CFS zu keiner Befreiung von den Auflagen der VStättV kommen sollte, könnte eine Zuschaueranlage mit der Geometrie des auf der Südtribüne errichteten Provisoriums die Lösung sein. Die Tritttiefe der Stehstufen liegt dort mit rund 53 cm deutlich über den in der DIN EN 13200 empfohlenen 400 mm. Vorteil der Übergröße: Jede Stehstufe kann mit zwei Treppenstufen überwunden werden, Tribünenneigungen bis 36 Grad sind möglich. Auch der Sichtlinienexperte Dr. Nixdorf erwähnt die exotische Lösung in seiner Dissertation „Sichtlinien und Sicherheit“. Allerdings würde durch die große Stufentiefe ein Viertel der Stehplatzkapazität verloren gehen.

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