Verzicht auf Klischees: Carmen in Grau und ohne Folklore
George Bizets „Carmen“ ist die erste Opernpremiere der Saison am Staatstheater. Kaum eine Oper ist so bekannt, fast alle Musikliebhaber haben die Musik im Ohr und hören im Geist die Castagnetten klappern. Und doch ist diese Inszenierung anders und in vielen Hinsichten bemerkenswert.
Von Halrun Reinholz

Natalya Boeva (Carmen) und Xavier Moreno (Don José)
Schon zu Beginn wird klar, dass die Sonne Andalusiens hier keine Rolle spielt: Eine Häusersiedlung, die eher im nebligen Norwegen verortet werden könnte, bestimmt das Bühnenbild im Martinipark. Die Soldaten sind im beigen Mao-Look, die Arbeiterinnen der Tabakfabrik haben einheitsgraue Kittel. Aus unerfindlichen Gründen trägt Don José (Xavier Moreno als Gast) eine blaue Daunenweste. Und dann taucht „La Carmencita“ auf – Natalya Boeva im schwarzen Punk-Look, wild und selbstbewusst.
Kritisch-feministische Perspektive
Die junge und bereits preisgekrönte Regisseurin Aileen Schneider hat die Oper nun auf eine ganz spezielle Art gegen den Strich gebürstet. Auch schon bei Bizet ist Carmen die Unangepasste, die sich den gesellschaftlichen Normen widersetzt. Doch diese Inszenierung erzählt die Handlung aus einer kritisch-feministischen Perspektive, bei der der Femizid an Carmen beim Namen genannt wird und eine zentrale Rolle einnimmt. Frauen sind hier die Opfer der patriarchal orientierten Gesellschaft, wenn sie deren Erwartungen nicht erfüllen.
Deutlich wird dies auf der Bühne mit Hilfe der Häuschen illustriert: dreht sich die nach außen undurchschaubare und abweisende Fassade, fällt der Blick im Inneren auf unglückliche Paare und Familien, wo den Frauen Gewalt angetan wird. Überhaupt sind die beweglichen Häuschen ein gut eingesetztes Vehikel auf der Bühne im Martinipark, wo bei solchen opulenten Inszenierungen mit großer Chorpräsenz die Unzulänglichkeiten der Ersatzspielstätte besonders deutlich werden. Findig nutzt die Inszenierung immer wieder den Saal als Aktionsraum. Eine große Gruppe von Domsingknaben verstärkt das Ensemble noch zusätzlich. Sie stechen durch blaue Uniformen hervor und trainieren eifrig für den Krieg. (Bühne und Kostüme: Jan Hendrik Neidert und Lorena Diaz Stevens).
Düsteres Bühnenbild
Der Verzicht auf die Carmen-übliche Folklore mit bunten Röcken und Flamenco-Einlagen ist Programm. Das Bühnenbild bleibt düster und grau und auch in der Welt der „Zingara“ dominieren die grauen Kittel bei den Frauen, die Männer haben nach wie vor den Soldatenlook des ersten Aktes. Nur Frasquita (Olena Sloia) und Mercedes (Luise von Garnier), Carmens Gefährtinnen, dürfen den Kittel ausziehen und bestreiten ihren Part im schwarzen Partnerlook mit der Protagonistin. Und auch Micaela, Carmens Gegenpart, die angepasste Frau zum Heiraten (Jihyun Cecilia Lee), sticht etwas hervor – ihre graue Kleidung ist mit einem Haarreif aufgepeppt, der ihr etwas Madonnenhaftes verleiht.

Natalya Boeva (Carmen) und Shin Yeo (Escamillo)
Fotos: Jan-Pieter Fuhr
Und da ist ja auch noch der Torero Escamillo (Shin Yeo), dessen maskuliner Ausstrahlung selbst die emanzipierte Carmen erliegt. Er kommt zeitgemäß als Pop-Star daher, im schillernden Kostüm, ein verschnitt von Elvis und Märchenkönig Ludwig. Bei seinem Erscheinen wird wie beim Karaoke der Text des Toreador-Chors an die Wand projiziert: Toréador, en garde! Der „Stier“ gegen den er kämpft, ist Don José, aus dessen Daunenweste plötzlich sowas wie Hörner wachsen.
Vieles wirkt befremdlich in dieser Inszenierung, zumindest auf den ersten Blick. Doch die Oper lebt ja nicht zuletzt von Bizets Musik. Domonkos Héja hält das Orchester routiniert und verlässlich im Zaum, um die Solistinnen und Solisten, die Ensembles und Chöre zur Geltung kommen zu lassen. Durchwegs herausragend ist Natalya Boeva als Carmen. Doch auch alle anderen um sie herum sorgen für ein wunderbares Klangerlebnis. Vielleicht ist es nur die reine Gewohnheit, dass ich als versierte Opernbesucherin die zum Klang passende Farbigkeit auf der Bühne vermisst habe. Die Sinnlichkeit und Lebensfreude, die diese Oper auch vermittelt. Ja klar, 1875 war ein anderer Zeitgeist. Der radikale feministische Blickwinkel hat sicher auch seine Berechtigung. „Bitte keine Klischees“, überschreibt der Dramaturg der Inszenierung Nicolas Léwy im Programmheft seine Erklärung des Konzepts. Oper ohne Klischees geht nicht, es sind nur andere. Warum auch nicht? Das Premierenpublikum applaudierte jedenfalls begeistert und mit großer Ausdauer.