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Montag, 05.05.2025 - Jahrgang 17 - www.daz-augsburg.de

„Unrichtiges Verhalten zeigen, um richtiges zu lehren“

Regisseur David Brückel und Musiker Geoffrey Abbott über ihre Inszenierung von Brechts „Maßnahme“

Von Frank Heindl

Vier kommunistische Agitatoren reisen aus Moskau an die chinesische Grenze, um dort beim Aufbau einer revolutionären Partei zu helfen. Als sie zurückkommen, melden sie, sie hätten einen Genossen getötet. „Stellt dar, wie es geschah“, werden sie aufgefordert, „und ihr werdet hören unser Urteil.“ Das ist die Ausgangssituation in Bertolt Brechts wohl umstrittensten Stück „Die Maßnahme“. Am Sonntag wird es im Textilmuseum in einer Neuinszenierung des Regisseurs David Brückel aufgeführt. DAZ-Redakteur Frank Heindl sprach mit Regisseur David Brückel und dem musikalischen Leiter der Inszenierung, Geoffrey Abbott.

Regisseur David Brückel (links) und der musikalische Leiter Geoffrey Abbott bringen gemeinsam mit Chorleiterin Andrea Huber am Sonntag im tim Brechts „Maßnahme“ auf die Bühne. Anschließend wird es die Möglichkeit zu Gespräch und Diskussion geben.

DAZ: Herr Brückel, die „Maßnahme“ war mal ein Skandalstück. Haben Sie ein bisschen Angst vor der Aufführung in Augsburg?

Brückel: Wir haben keine Angst vor dem Stück. Man muss sich damit auseinandersetzen, und es darf die Leute auch aufstören. Aber wir wollen vor allem verschiedene Blickrichtungen möglich machen, wollen Ambivalenzen aufzeigen: Man kann und darf verstehen, dass der junge Agitator das Elend sofort bekämpfen will – und man kann ebenso verstehen, dass die anderen es für sinnvoller halten, eine Strategie zu verfolgen. Das sind Probleme, die man auch heute hat, wenn man eingreifen will. Wir wollen dabei das Stück weder historisieren noch unmittelbar an heutige Situationen und Geschehnisse anknüpfen. Selbstverständlich muss man aber diskutieren, was die hier vertretenen Positionen für die Gegenwart bedeuten.

DAZ: Das Stück ist ja auch musikalisch eine Herausforderung – eine große Aufgabe auch für den Chor.

„Schade, dass wir das Ergebnis nur einmal zeigen können“

Abbott: Es ist zum ersten Mal, dass ein Brecht-Stück eigens für das Brechtfestival inszeniert wird. Das ist viel Arbeit – und es ist sehr schade, dass wir das Ergebnis nur einmal zeigen können. Bei der Uraufführung hatten Brecht und Eisler einen Massenchor – bei uns ist das eher kammermusikalisch. Wir haben 45 Chorsänger, alle im Schnitt zehn Jahre jünger als die Schauspieler. Ich wollte vermeiden, dass die Sänger zu viele Assoziationen an die Zeit des kalten Krieges haben, sie sollten unbelastet und wissbegierig sein. Unsere Aufführung wird klanglich natürlich nicht so bombastisch sein wie damals – aber vielleicht gerade deshalb wird sie noch mehr im Brechtschen Sinne ablaufen.

DAZ: Brecht hat das Stück ja eigentlich nur als Übung für Schauspieler geschrieben …

Brückel: Ja, ihm schwebte ein Stück ohne Zuschauer vor – aber es ist trotzdem nicht kopflastige Ideologie, was er zeigt. Sobald die Schauspieler auf der Bühne sind, bekommt der Inhalt Fleisch und Blut, bekommt das Stück eine andere Ebene. Man kann es nicht naturalistisch inszenieren – es gibt so viele Verfremdungseffekte: die Musik, das Heraustreten aus den Rollen, das Chorische, die Tatsache, dass Chor und Musiker mit den Schauspielern auf der Bühne sind.

DAZ: Kann man den Inhalt denn heute überhaupt noch verstehen? Und interessiert der überhaupt heute noch?

„Wir fragen das Publikum“

Abbott: Wir sehen schon beim Proben, dass das Thema noch immer interessant ist. Und man wird bei der Aufführung die neugierigen Augen der jungen Leute im Chor sehen. Sie wollen wissen „was da los ist“, genau wie die Kontrolleure, die die Agitatoren befragen. Vielleicht sind die Agitatoren ja erst nach vielen Jahren zurückgekehrt, vielleicht fällt es ihnen sehr schwer zu erzählen, was passiert ist, dass es Opfer gegeben hat. Und nun werden sie befragt – auch von uns. Und auch vom Zuschauer.

Brückel: Deshalb wird ja auch das Opfer, der junge Aktivist, der getötet wird, von den vier Agitatoren abwechselnd gespielt. Das macht die Frage des Stückes und die Ambivalenz der Beantwortung sehr deutlich.

Abbott: Die Schauspieler zeigen in der Inszenierung permanent, dass sie spielen. Und trotzdem funktionieren die Worte, die sie sagen.

Brückel: Wir haben ein sehr junges Ensemble, mit dem sich sehr gut darstellen lässt, dass wir die Fragen auch uns selbst stellen, aber nicht beantworten wollen. Und wir fragen natürlich das Publikum – wir stellen nicht hin, was es denken soll.

„Ändere die Welt – sie braucht es!“

DAZ: Hilft Eislers Musik dabei?

Abbott: Bei der „Maßnahme“ haben Brecht und Eisler zum ersten Mal zusammengearbeitet. Aber es ist schon bei diesem Werk großartig, wie die Melodien mit den spröden Chorsätzen genau das erzeugen, was man auf der Bühne braucht. Je mehr ich mich mit Eisler beschäftige, desto großartiger finde ich ihn. Vieles hört sich beim ersten Spielen am Klavier schwierig an, aber in der Instrumentierung wird das dann alles schlüssig.

DAZ: Wie stellen Sie sich zu dem Vorwurf, Brecht rechtfertige politischen Mord?

Brückel: Brecht wollte politisch unrichtiges Verhalten zeigen, um richtiges zu lehren. Man spielt also etwas durch, was nicht richtig ist, um es im eigenen Leben nicht so zu machen. Auch hier gilt, dass Brecht und auch wir ganz bewusst die Identifikation brechen – sowohl für die Spieler als auch fürs Publikum. Es geht darum, dass Teilnehmende und Publikum denken sollen – nicht darum, dass wir ihnen etwas vorsetzen; das wollte auch Brecht nicht.

Abbott: Es gibt auch bei der „Maßnahme“ immer die Möglichkeit zur nüchternen Betrachtung. Vielleicht meinte Brecht ja das mit dem „Theater der Zukunft“. Er wollte, dass die Leute sich entscheiden.

Brückel: Wenn man Theater nur macht oder ins Theater nur geht, um etwas zu konsumieren, dann macht das keinen Sinn. Man muss schon selber denken. „Ändere die Welt, sie braucht es“, hat Brecht gesagt, und er wollte mit seinen Stücken zur Veränderung beitragen. Und Brecht hat immer wieder die Frage gestellt: Was ist eigentlich der Mensch? Das sind Fragen und Probleme, die immer noch interessant sind und die wir mit dieser Inszenierung aufgreifen wollen.

Ein Stück aus dem Kampf der Ideologien

„Die Maßnahme“ – Brechts wohl umstrittenstes Werk



Von Frank Heindl



Brechts „Maßnahme“ wurde bereits in der Weimarer Republik ebenso wie später in Nachkriegsdeutschland als Skandal empfunden. Er rechtfertige politische Gewalt, wurde Brecht nachgesagt, schlimmer noch: Der Kommunist Brecht befürworte den Mord aus ideologischen Gründen und damit auch die stalinistischen Säuberungen in der Sowjetunion. Brecht selbst sperrte das Stück für die Aufführung – in seinen Augen rief es zu viele moralische Entrüstung hervor, die der Sache nicht diene. Außerdem sei das Stück nie für die Aufführung, sondern nur als Lehrstück für Schauspieler gedacht gewesen. Nach Brechts Tod war es Helene Waigel, die eine Aufführung nicht erlaubte – erst in den späten 60er-Jahren gab es eine erste Wiederaufnahme in München.



Für Brecht war die „Maßnahme“ dennoch ein äußerst wichtiges Stück. Zum ersten Mal arbeitete er mit dem Komponisten Hanns Eisler zusammen, der bis dahin vor allem durch Arbeiterlieder bekannt war. Die Uraufführung der „Maßnahme“ war deshalb nicht nur eine Demonstration des neuen, von Brecht „erfundenen“ epischen Theaters, sondern auch des Selbstbewusstseins der linken Arbeiterschaft und deren Bemühungen um eine eigenständige, nicht- oder antibürgerliche Kultur: Eisler stellte einen 400 Mann starken Arbeiterchor auf die Bühne, der – zeitgenössischen Berichten zufolge – die nicht einfach umzusetzenden und für die damalige Zeit sehr neuartigen Kompositionen Eislers hervorragend umsetzte.



Die Aufführungen wurden von den Nazis gestört



Bei der Bewertung des Stücks ist es unerlässlich, auch die Zeitumstände zu beachten. Nicht nur Brecht und die Kommunisten diskutierten in den 20er- und 30er-Jahren den Widerspruch zwischen den Ansprüchen und Rechten des Individuums und den gesellschaftlichen Massenorganisationen der Zeit. „Die Maßnahme“ entstand, während in Deutschland die braunen Horden marschierten und Hitler offen die Macht an sich zu reißen begann – mit einem politischen Programm, später einer faschistischen Praxis, in der das Individuum keine Rolle mehr spielte. Am heftigsten wurden die Nazis von den Kommunisten bekämpft – die dabei auch die größten Verluste erlitten. Über die Strategien dieses Widerstands diskutierten nicht nur die deutschen Kommunisten, sondern alle linken Parteien Europas, die wenige Jahre später ebenfalls in heftige Kämpfe verwickelt waren, etwa im spanischen Bürgerkrieg.



Viele der damals diskutierten Argumente kann man heute nur noch aus historischer Perspektive nachvollziehen – die brutalen Kämpfe hatten nicht zuletzt auch eine Brutalisierung der Ideologie zur Folge. Auch Brecht und die „Maßnahme“ waren Opfer der politischen Katastrophe in Deutschland: Schon vor Hitlers Machtübernahme wurde die Aufführung von Polizei und Nazis gestört, später verboten, wurden Schauspieler und Regisseure verhaftet. Brecht selbst floh 1933 – einen Tag nach dem Reichstagsbrand – vor den Nazis nach Dänemark und von dort aus durch die halbe Welt. Er sollte erst 15 Jahre später wieder deutschen Boden betreten.