Der gute Mensch von Sezuan
Am morgigen Samstag, 8. Februar steuert das diesjährige Brechtfestival auf seinen Höhepunkt zu. „Der gute Mensch von Sezuan“ hat im Großen Haus Premiere. Frank Heindl und Frank Mardaus haben das Stück vorab gelesen. Die Premierenkritik übernimmt Frank Heindl. Dr. Frank Mardaus hat dem „Volksstücks zur religiösen Ökonomie“ eine spezielle Lesart abgerungen. Mardaus hat seine Doktorarbeit über Uwe Johnsons „Jahrestage“ geschrieben, ist also ist gelernter Literaturwissenschaftler, besitzt aber auch einen Abschluss als Diplom-Ökonom.
I Das Vorspiel

II Die Handlung
Drei Götter suchen in der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz Sezuan einen guten Menschen, finden ihn in der Prostituierten Shen Te, die sich bereit erklärt, sie aufzunehmen. Die gute Tat wird durch gut 1000 Silberdollar belohnt, was Shen Te ermöglicht, die Branche zu wechseln und einen Tabakladen zu übernehmen. Ihr liebevolles Wesen verhindert kaufmännisch kluge Entscheidungen, wie etwa den günstigen Einkauf der Ladeneinrichtung oder den Verkauf der Ware zum angemessenen Preis. Vor allem aber wird die plötzlich zum Mittelstand aufgestiegene Geschäftsfrau zum Opfer eines Heiratsschwindlers, der ihr – zumindest nach Einschätzung ihres Onkels – Liebe jenseits der Sexarbeit vormacht, dabei aber nur in Konkurrenz zu einer anderen Form käuflicher Liebe, nämlich für eine Vernunft-Heirat zum Erhalt des Tabakladens steht.
III Die Deutung
Der Gute Mensch von Sezuan ist ein Lehrstück einer Ökonomie der Armut. Die Mittellosen eines Staates ohne soziale Sicherung bedienen sich – ganz in Tradition zum frühen Nietzsche – einer Moralvorstellung, die ihnen, aber nicht den Helfenden nützt. Die von den Göttern ausgewählte Shen Te wird systematisch geschwächt – und geliebt. Die ehemalige Prostituierte erkennt das böse Spiel und verwandelt sich vermittels einer Maske in ihren eigenen Onkel, mit dem sie in die vernünftigen Prinzipien einer, heute würde man sagen: neoliberalen Welt schlüpft. Tatsächlich gelingt es dem Onkel, also ihr selbst, das Ausbluten ihrer neuen Existenz immer wieder zu stoppen. Allerdings ist, da sie immer wieder sie selbst sein muss, der Erfolg regelmäßig nur von kurzer Dauer.
Dem Text nach gibt es im Stück in der Tat viele Elemente eines Schwanks, denen auch zu verdanken ist, dass die beteiligten Personen den Mummenschanz als solchen nicht erkennen. Doch während im Volksstück Erfahrungen aus der fremden Rolle in die eigentliche Identität hinüber gerettet werden, bleiben beide Figuren, die Tabakverkäuferin Shen Te und ihr Onkel Shui Ta, in ihren Rollen und Denkweisen vollkommen voneinander isoliert – zumindest, soweit sie handlungsrelevant sind. Und genau dieser Umstand macht den Text von Brecht so großartig: Alles dreht sich um den Umstand, dass die Rollen Mann/Frau und vor allem die materiellen Umstände keineswegs durch Erfahrung geändert werden können.
Die Paradoxie
Daraus folgt keineswegs mit Notwendigkeit ein Bekenntnis zur sozialistischen Revolution. Das Stück, von seinem Ende her gelesen, darf ebenso gut als christliche Paradoxie gelten: Zum Handeln aufgefordert ist der Einzelne ohne Rücksicht auf Beruf und Familie. Doch um dieses Gute zu verkünden und es materiell abzusichern, bedarf es der Struktur. Das Gute liegt aber nicht in den entsprechenden Institutionen, auch wenn sie solche Leitgedanken tragen – seien dies nun Kirche, Partei, Agendaprozess oder engagierte Arbeitgeber (wie die Tabakfabrik Shui Ta). Diese Institutionen müssen sich in einer immer auch (kapitalistischen) Welt orientieren, allein um fortzubestehen.
Der gute Mensch jedoch kann sich in diesen Firmen und Institutionen nicht im humanen Sinn „engagieren“, sondern sich bestenfalls durch sie unterstützen lassen. Wenn es einen guten Menschen denn gibt, dann liebt er in einer sich gefährdender Weise und wird dafür geliebt. Diese Liebe ist mit Brechts Sezuan indes nicht selbstlos zu nennen, denn sie ist immer auch eine sinnliche.
