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Freitag, 29.03.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Kino

“Reden wir über Brecht“ – Regisseur Joachim Lang zu Gast im Thalia

Am gestrigen Sonntag fand im viel zu kühlen Thalia-Kino eine fast ausverkaufte Vormittagsvorstellung von Joachim Langs Dreigroschenfilm statt. Anschließend plauderten der Chefredakteur der Augsburger Allgemeinen, Gregor Peter Schmitz, Joachim Lang und Lutz Kessler (Staatstheater Augsburg) über die Kunst, einen Film zu machen.

Von Udo Legner

Brecht in Augsburg – Foto: Staats- und Stadtbibliothek Augsburg

Schon am Kinoeingang wurde das Publikum mit der Moritat von Mackie Messer auf die über zweistündige Tour de Brecht und die anschließende Diskussion mit dem Regisseur und ehemaligem Brechtfestival-Leiter Joachim Lang eingestimmt. Was die Temperatur im Thalia-Kinosaal anbelangte, hätte der Kontrast zur geradezu tropischen Premiere des Mackie Messer Dreigroschenfilms am 13. September nicht krasser sein können. Trotzdem gab es am Ende des Films warmen Applaus, als Moderator und Chefredakteur Gregor Peter Schmitz neben dem Regisseur auch Lutz Kessler, den Dramaturgen des Augsburger Staatstheaters begrüßte.

Joachim Lang schwärmte von der Traumbesetzung seines Mackie Messer-Films – angefangen von Lars Eidinger in der Rolle des Brecht, über Hannah Herzsprung als Polly und Tobias Moretti als Macheath. “Ein verschworener Haufen” sei das Ensemble gewesen, das ihm half, all die Unbill in Zusammenhang mit den Filmrechten und der Finanzierung durchzustehen.

Wie bei Langs Augsburger Brechtfestivals propagierte er in seinem Dreigroschenoper-Film nicht den ideologischen und dogmatischen Bert Brecht, sondern ließ Lars Eidinger Brechts provokative und humorvolle Seite herausstellen. Wie erstaunlich modern Bert Brecht ist – auch darauf wurde im Gespräch zum Film hingewiesen.

Vieles, was in amerikanischen Serien als das Non Plus Ultra der modernen Filmsprache gepriesen wird – wie etwa der direkte Blick, den Kevin Spacey in der Netflix Serie House of Cards in die Kamera wirft, um das Publikum direkt anzusprechen und somit eine Nähe zum Protagonisten entstehen lässt, die ihn trotz seines boshaften Charakters menschlich macht, – sei bereits bei Bert Brecht zu finden, wie Joachim Lang dem Publikum erklärte.

Besonders erfreulich fand Dramaturg Kurt Kessler, dass das Theater durch Joachim Langs Mackie Messer-Film in die Kinos komme, nachdem es von den Fernsehschirmen mehr und mehr verschwunden ist. Mehr als 120.000 Zuschauer hätten den Film bereits seit dem Start am 13. September gesehen und würden dadurch vielleicht auch wieder den Weg ins Theater finden.

Dr. Joachim A. Lang – Foto: DAZ-Archiv

Am Ende der Diskussion konstatierte Joachim Lang, dass das sicher nicht der Film sei, den Bert Brecht drehen wollte, sondern der Film, wie er ihn machen wollte. Er garnierte diese Feststellung mit dem Brecht-Bonmot „Man muss heute heutiges und nicht abgehangenes Rindfleisch essen.“ So habe er versucht, aktuelle Themen und Entwicklungen aufzugreifen. So seien für ihn die Bettler in seinem Dreigroschenfilm die Flüchtlinge, die von Ungarn über Österreich nach Deutschland gekommen sind. Es gehe nämlich – wie es in der Mackie Messer-Moritat anklingt – nicht zuletzt darum, auf das hinzuweisen, was sonst im Dunkeln bleibt: auf die Brutalitäten unserer Welt, in der die Spaltung zwischen Arm und Reich zunimmt, auf das Wiedererstarken des Faschismus und das Eintreten für die Freiheit der Kunst.

Nach langanhaltendem Schlussapplaus setzte der ehemalige Stadtrat Karl Heinz Englet noch einen unerwarteten Schlusspunkt. Er erinnerte an die tolle Zeit, in der Joachim Lang das Festival geleitet hatte und konfrontierte ihn mit der Frage, ob er wieder die Leitung des Augsburger Brechtfestivals übernehmen wolle. In seiner knappen Replik verwies Joachim Lang darauf, dass dies Sache der hiesigen (Kultur-)Politiker sei und verwies noch kurz auf Dessau, wo es bessere Strukturen für eine nachhaltige Brechtpflege gebe.



Brechtfestival 2024: Unter Kumpels und Sportsfreunden

Die informelle doppelte Eröffnung  zeigt interessante Ansätze, aber auch Befremdliches

Von Halrun Reinholz

Nun ist wieder Brechtfestival, zum zweiten Mal unter der Leitung   von Julian Warner. Die Eröffnung im Martinipark fiel mit der Premiere von „Mutter Courage“ zusammen. Im Gegensatz zum letzten Jahr, als das Festival Brechts 125. Geburtstag  feierte, ist das Theater diesmal zumindest mit im Boot. 

Festlich eingestimmt, ein Glas Sekt in der Hand, wartet das Premierenpublikum gespannt auf die eröffnenden Grußworte. Auf der Bühne sitzt schon die ganze Zeit über ein elegant gekleideter Mann mit Frauenperücke und in blau und grün glitzernder Garderobe.  In einem sehr rustikalen Deutsch mit stark angelsächsischem Akzent fängt er unvermittelt an, die Anwesenden freundlich  zu begrüßen. Er ruft „die Eva“ (Weber) auf die Bühne, dann „den Jürgen“ (Enninger) und schließlich „den André“ (Bücker), den Hausherrn im Martinipark. Weder im Programmheft noch im Internet findet sich ein Hinweis darüber, wer der ominöse Festival-Eröffner ist. Erst intensive Internet-Recherchen lösen das Geheimnis auf: Es handelt sich um den „Schauspieler und Performer“ Damian Rebgetz, offenbar aus Berlin angereist, wie er selbst im Plauderton bekanntgibt. Manche kennen ihn wohl schon vom letzten Brechtfestival.  

„Brecht und keine Zukunft“

„Brecht und keine Zukunft“ hat Festivalleiter Julian Warner das Editorial zum Brechtprogramm überschrieben, als Erklärung für das diesjährige Festival-Motto: „No Future“. Wenig eingängig, weil langatmig und kompliziert formuliert, seine auf Brecht und Benjamin verweisende philosophische Grundlage für dieses Motto. „Die naiven eskapistischen Vorstellungen von …  Erhöhung, Innovation und Befreiung werden ersetzt durch die Administration der sich auftürmenden Katastrophe. Was bleibt, ist das Hier und Jetzt.“ Diese  No-Future-Stimmung vermittelt Warner bei der Festivaleröffnung allerdings nicht. Er seht gut gelaunt und grinsend im Publikum und macht keine Anstalten, als Gesamtverantwortlicher zumindest für ein informelles „Hallo“ in Erscheinung zu treten.  

Befragt von Moderator Damian darf „die Eva“ nun dazu Stellung nehmen, wie sie als Stadtoberhaupt das apokalyptisch anmutende Motto „No Future“ sehe. Für sie sei das keine Frage und keine Feststellung, sondern eine sportliche Herausforderung, eine Anregung, nach Lösungen zu suchen, sagt sie, und führt ihre „grundsätzlich optimistische Einstellung“ und Zuversicht ins Feld. Auch „der Jürgen“ muss sein vorbereitetes Grußwort stecken lassen. Immerhin kann er etwas energisch durchsetzen, wenigstens die Liste der Sponsoren verlesen zu dürfen. Im übrigen lobt er die Verknüpfung des Brechtfestivals mit dem Thema Sport, ein Bereich, der auch in sein Ressort fällt.  Intendant André Bücker und Dramaturgin Melanie Pollmann stimmen dann noch auf die bevorstehende Premiere von Brechts „Mutter Courage“ ein – ein eindringliches und angesichts der aktuellen Weltlage höchst aktuelles Stück darüber, was „der Krieg“ mit den Menschen macht. (Über die Premiere folgt demnächst ein eigener Beitrag).

Eröffnung des Brechtfestivals im Martinipark vor der Premiere von „Mutter Courage“

Eröffnung des Brechtfestivals im Martinipark vor der Premiere von „Mutter Courage“

Am nächsten Tag fand, abseits vom glitzernden Premieren-Parkett (falls man den Martinipark so nennen kann), eine zweite, quasi volkstümliche Festival-Eröffnung statt. Die Idee, in die Stadtteile zu gehen und lokale Akteure mit einzubeziehen, hat Warner auch in diesem Jahr fortgeführt und Oberhausen dafür ausgewählt. Als Festivalzentrale fungiert das ehemalige Möbelhaus Lederle am Plärrer, ein ausreichend großes und gut erreichbares Gebäude. Die große Parkfläche dahinter wurde angesichts des sonnigen Frühlingswetters für die Eröffnungsveranstaltung genutzt. Moderator Damian Rebgetz, diesmal in königlich anmutender Robe, begrüßte die Menschen vom Flachdach aus, wo auch die die Grußworte gesprochen wurden. Derweil fand unten auf der rieseigen Fläche das „Turnfest“ mit Vorführungen verschiedener Sportvereine und anderer Gruppen statt, die der Einladung des Festival-Teams gefolgt waren. Den Start machte wenig akrobatisch, dafür auch ohne Verstärkung deutlich hörbar, die „Alphorngruppe Waltenhofen“. Sportlich wurde es mit der Gruppe der Cheerleader „CheerInMotion“, die  atemberaubende Akrobatik vorführten. Es folgten die Pfadfinder der Assyrischen Jugendgruppe, die Voltegiergruppe des Augsburger Pferdesportvereins, die Marching Band der Centerville-Schule, der Augsburger Baseball-Verein, eine Tanzgruppe des Mesopotamien-Vereins, Mitglieder der Jiu-Jitsu und Karate-Schule Augsburg, eine sehr große Yoga-Gruppe sowie ein Musikensemble des Alevitischen Kulturvereins. Nicht alle erwiesen sich als so vorführtauglich wie die akrobatischen Cheerleader, doch die Aufmerksamkeit der Zuschauer musste ohnehin zweigeteilt werden, denn die Reden vom Flachdach erfolgten nicht zwischen, sondern während der sportlichen Vorführungen auf dem Platz. Die Philosophin Eva von Redecker knüpfte auch an die von Warner vorgegebene Dualität von Brecht und Benjamin an und berichtete von den Alpträumen einer Menschheit ohne Zukunft. Nur die Phantasie, so ihr Plädoyer, kann für ein sanftes Erwachen aus dem Alptraum sorgen. Danach gaben Vertreter von drei Religionen ganz persönliche Einblicke darüber, wie sie sich die Gestaltung der Zukunft vorstellen: Riza Eliagir vom Augsburger Bildungs- und Kulturverein in der Eschenhof-Moschee baut auf das Rezept des menschlichen Miteinanders, zu dem auch der Humor gehört. Nenad Živković von der serbisch-orthodoxen Gemeinde Augsburg orientiert sich an der Unbeschwertheit seiner Kinder im Hier und Jetzt und die evangelische Pfarrerin der Oberhauser Kirche St. Johannes Snewit Aujezdsky findet ihren Anker im Glauben. Durch die Gleichzeitigkeit mit den Sport-Vorführungen ergaben sich durchaus interessante Assoziationen zwischen Auge und Ohr: Die achtsamen Worte der Philosophin wurden durch die Yoga-Posen unterstrichen, die salbungsvolle Predigt der evangelischen Pfarrerin dagegen durch den harten Aufprall der schwarzbegürtelten Jiu-Jitsu Kämpfer seltsam konterkariert. Kontraste wie im richtigen Leben.

Die Augsburger Cheerleading-Gruppe Cheer in Motion bei der akrobatischen Vorführung zur Festival-Eröffnung.

Die Augsburger Cheerleading-Gruppe Cheer in Motion bei der akrobatischen Vorführung zur Festival-Eröffnung. ©_BrunoTenschert47

„Wenn der Lauf der Geschichte in keine Zukunft mehr führt, muss er aufgehalten werden. So wie die historischen Turner*innen ihr Körpertraining mit einer politischen Idee verbanden, ist auch dieses Turnfest eine politische Geste: Mit Kraft, Spannung und Schwung bäumen wir uns auf gegen den Lauf der Geschichte.“ So die Prämisse im Brechtfestival-Programm für dieses „Turnfest“ zur Eröffnung. Turnen mit politischer Idee verbinden? Das ruft irgendwie unangenehme Assoziationen hervor. Dieses „Turnfest“ hatte allerdings nichts von dem, was in Nazi-Zeiten aber auch in der Sowjetunion und den Ostblock-Ländern an Missbrauch der sportlichen Idee stattgefunden hatte. Vielmehr sind heute die Orte, wo man „das Volk“ findet die Sport- und Kulturvereine der Stadt, insofern ist der Ansatz, in die Stadtviertel zu gehen, in Brechts Sinn konsequent. Ob die „Aufbäumung gegen den Lauf der Geschichte“ allerdings funktioniert und die „Vollbremsung“, die wir angeblich leisten müssen, um die Zukunft doch noch zu retten, durch dieses Brechtfestival in Gang gebracht werden kann, ist wohl eher Wunsch als Wirklichkeit. Wahrscheinlich braucht es eine wundersame, märchenhafte Rettung, wie sie zum Ende des Turnfestes sozusagen aus dem Nichts auftauchte: Zu den Klängen der wohlbekannten Filmmusik kam „Winnetou“, sozusagen direkt von den Dasinger Festspielen, in voller Montur – politisch unkorrekt und feierlich beklatscht – hoch zu Ross aus dem Gebüsch. Phantasie, wir erinnern uns, ist die Rettung. Damit war alles gut und die Party bzw. das Brecht-Festival wanderte ins Innere des Festival-Centers, wo bis zum 3. März noch einiges an Programm geboten ist: Sport, aber auch Diskussionsrunden, eine Bar und auch eine mobile Zeitkapsel als Kunstinstallation. 



„Die gefährlichste Frau Amerikas“ auf der Brechtbühne

Uraufführung eines Stücks über die Anarchistin Emma Goldman

Von Halrun Reinholz

Wie weit darf Anarchie gehen? Emma Goldman meint: Bis zum Äußersten. Die Anarchistin akzeptiert keine Ausreden und Bedenken, wenn es um die „Sache“ geht – den Acht-Stunden-Tag für Arbeiter, die Rechte der Frau, den Kampf gegen den Kapitalismus. Auch Privatleben, Gefühle, Beziehungen müssen sich dem Gesamtziel unterwerfen.

Die Person Emma Goldman gab es wirklich. Sie wurde 1869 in einer orthodoxen jüdischen Familie in Litauen geboren, wo sie schon als Schülerin mit militanten anarchistischen Ideen in Berührung kam. Mit 17 wanderte sie in die USA aus und wurde dort aktiv, aber auch in Europa und sogar in Russland. Weder Gefängnis noch Ausweisung erschütterten sie. Ihr Einfluss auf die Massen war so groß, dass sie als „gefährlichste Frau Amerikas“ eingestuft wurde.

Der Chor kollabierender Nervenzellem (Katja Sieder, Thomas Prazak, Patrick Rupar & Mirjam Birkl) umgibt Emma Goldman (Mirjana Milosavljević)

Der Chor kollabierender Nervenzellem (Katja Sieder, Thomas Prazak, Patrick Rupar & Mirjam Birkl) umgibt Emma Goldman (Mirjana Milosavljević). Foto: Jan-Pieter Fuhr

Zahlreiche Reden und Schriften von ihr sind Zeugen ihrer politischen Haltung. Daraus und aus ihren biografischen Daten hat die Theaterautorin Tine Rahel Völcker ein Stück geschrieben, das nun auf der Brechtbühne des Augsburger Staatstheaters uraufgeführt wurde. Die überwältigende Fülle an Redematerial hat wohl dazu geführt, dass Regisseurin Nicole Schneiderbauer die Rolle der Emma Goldman gleich mit drei sich abwechselnden Frauen besetzte: Katja Sieder, Mirjana Milosavljevic und Mirjam Birkl teilen sich Rede und Aktion und zeigten dabei unterschiedliche Nuancen und Facetten der in jeder Hinsicht radikalen Persönlichkeit Emma Goldmans, die selbst die von ihr grundsätzlich propagierte freie Liebe nur als politischen Akt akzeptierte. Männliche Mit- und Gegenspieler von Emma Goldman in unterschiedlichen Rollen sind Thomas Prazak, Patrick Rupar und Paul Langemann. Die zuweilen heftigen zwischenmenschlichen Aktionen werden aufgelockert durch seltsame Personifikationen: Zur Bekräftigung der Handlung „spielen“ die Ensemblemitglieder etwa kollabierende Nervenzellen, ein Ei kurz vor dem Eisprung, Emmas Hände, den Chor der Gummigeschoss-Werfer, eine Peitsche, die Zeitung mit Extrablatt-Meldungen zur Causa Goldman und noch einiges mehr. Diese auflockernden Aktionen bringen die Handlung dramaturgisch voran und haben gleichzeitig eine reflektierende Funktion im Stil eines antiken Chors.

Die Bühne wird dominiert von einem multifunktionalen Metallgerüst, das mit wenigen Handgriffen gedreht und überzeugend verwandelt werden kann (Miriam Busch). Im Hintergrund liefert ein angenehm dezenter Videoeinsatz (Stefanie Sixt) schwarz-weißen Zeitgeist. Auch der Zuschauerraum ist Teil der Aktion: Emma kommt ins Publikum, um „die Massen“ aufzuwiegeln und auch das Licht wird in diesen Situationen in den Saal gerichtet. 

Grundlage für das Stück von Tine Rahel Völcker waren hauptsächlich die eigenen Texte von Emma Goldman. Sie nutzt sie auch als Blaupause für den Gegenwartsbezug, ohne diesen allerdings zu plump in den Vordergrund zu stellen. Emma erinnert immer wieder mit Anspielungen an die heutige Situation der Mädchen und jungen Frauen.: „Wie ist das in eurer Partnerschaft? Fifty-fifty-Teilung?“ Eines der „Nebenspiele“ von Gegenständen ist der Chor der Dosen-Tomaten, die sich darauf vorbereiten, auf ein Gemälde gekippt zu werden. „Komm, wir gehen in die Kunstgalerie“, bestimmt Emma Goldman davor.

Mirjana Milosavljević, Katja Sieder und Mirjam Birkl verkörpern zu dritt die Anarchistin Emma Goldman.

Mirjana Milosavljević, Katja Sieder und Mirjam Birkl verkörpern zu dritt die Anarchistin Emma Goldman. Foto: Jan-Pieter Fuhr

Die sehr ernsten und auch wieder sehr aktuellen Fragestellungen der Anarchistin Emma Goldman erhalten durch dieses facettenreiche Stück eine Würdigung, die nicht ins Plakative abdriftet. Indem die Widersprüche spielerisch karikiert werden, erhält das spröde Thema Farbe und Leichtigkeit fern jeder Banalität. Lösungen werden nicht präsentiert, doch ernsthaft und dabei durchaus unterhaltsam in den Fokus gerückt. Das ist übrigens nicht zuletzt der überzeugenden Leistung des beteiligten Schauspiel-Ensembles zuzuschreiben.



Brechtfestival

Interview mit Julian Warner: “Es gilt sich Brecht anzueignen, ihn gar zu enteignen”

Julian Warner, Augsburgs Brechtfestival-Leiter der kommenden Jahre, erhielt für sein Konzept wie für sein Programm im Vorfeld hohe mediale Aufmerksamkeit und von der Grünen Stadtratsfraktion die üblichen Vorschusslorbeeren via Pressemitteilung. Seitens des Grünen Koalitionspartners ist eine vorsichtige Skepsis herauszuhören. Doch nicht nur bei der CSU gibt es diesbezüglich Hintergrundgeräusche. Auch im Umfeld der DAZ sind zu Warners Festivalkonzept nur wenige Signale der freudigen Erwartung zu vernehmen. Einen mächtigen Vorteil bezüglich seiner Vorgänger hat Warner allerdings durch den Jubiläumsumstand. Damit ist gemeint, dass die Stadt selbst mit vielen bekannten städtischen Akteuren zum 125-jährigen Geburtstag ihres berühmtesten Sohnes eine ganzjährige Veranstaltungsreihe geplant hat, in der das Festival als ein Teil des Ganzen vorkommt. Das nimmt dem ersten Warner-Festival ein wenig Dampf aus dem Kessel. Warner selbst, so der Eindruck, will nicht nur Brecht entideologisieren, sondern auch die Brecht-Rezeption und somit die gesamtgesellschaftliche Realität verändern. Ideologie könnte bei der Suche nach der Wahrheit im Wege stehen, doch nicht nur die Ideologie, sondern auch die “Wahrheit selbst” könnte für einen Erkenntnisgewinn untauglich sein. Und schon geht der Geist von Brecht spazieren. So gesehen stellt Kulturanthropologe Warner Brecht vom Kopf auf die Beine – auf laufende Beine. Eine riskante Unternehmung, die sehr wahrscheinlich zum Scheitern verurteilt ist, so die DAZ-Prognose. Falls diese Annahme zutreffen sollte, würde Warner immerhin auf hohem Niveau scheitern und müsste schlimmstenfalls mit einer Bewährungsstrafe rechnen: “Ich übe die Position als Brechtfestival-Leiter bewusst nicht als Philologe, sondern als Dieb aus”, so Warner im DAZ-Interview. (sz)

Julian Warner: “Man darf also mit Fug und Recht behaupten, dass der Fokus auf die Methoden eine Forderung ist, welche „Bertolt Brecht im kalten Krieg“ transzendiert.”

DAZ: Herr Warner, ich habe in den vergangenen 15 Jahren zirka 12 oder 13 Brechtfestivals intensiv verfolgt und journalistisch begleitet und konnte dabei einen erstaunlichen künstlerischen Verfall des Festivals von Albert Ostermaier bis hin zu Julian Warner zur Kenntnis nehmen. Kennen Sie die Vorgängerfestivals, falls ja, wo sehen Sie da Bezüge zu Ihrem?

Warner: Ich habe die vergangenen Festivals und ihre Leiter nicht studiert, sondern nur aus der Ferne mitbekommen. Ich habe lediglich eine Ahnung von ihnen. Eine Intuition at most. Ich habe aber mit großem Interesse ihre Ausführungen in den diversen Medien-Specials gelesen und stelle fest: Die Ansätze sind höchst unterschiedlich. Vergleichen und beurteilen ist das Privileg der unterschiedlichen Publika und Kritiker. Das mache ich mir nicht zu eigen. Das Bild des Verfalls oder Niedergangs finde ich insofern unproduktiv, als dass man doch schwerlich einen Autoren findet, dessen Werk selbst bereits wie ein Palimpsest funktioniert. Mit Frederic Jameson gesprochen könnte man fragen, welche Brechtsche Wahrheit sucht ihr denn jenseits der Großen Methode?

DAZ: Niedergang oder Verfall deshalb, weil zum Beispiel Ostermaier und Dr. Joachim Lang noch bereit waren, Brecht und sein Werk abzuklopfen und nach Aktualität zu überprüfen – auch Wengenroth kann man dies zugestehen, während man bei Kutter und Kühnel mit gestanzten Formeln klarkommen musste. Bei Ihrem Festival sehe ich Bertolt Brecht als Autor ohne Werk, wohl aber mit Methode, die Sie in den Vordergrund stellen. Doch, um ehrlich zu sein, kenne ich keine “Brecht´sche Methodik”. Außer die der dialektischen Analyse vielleicht und die der emotionalen wie geistigen Ausbeutung seiner ihm zugewandten “Brecht-People”. Nun die Frage: Sehen Sie Inhalt und Methode als etwas miteinander Verwobenes wie zum Beispiel Inhalt und Form?

Warner: Frederic Jamesons Buch heißt ja „Brecht AND Method“ und eben nicht „Brecht AS Method“. Es geht eben nicht um die Anwendbarkeit der „Dachmarke Brecht” auf unendlich viele Kontexte, sondern um die Frage, wie sich das Brechtsche Erbe wandeln beziehungsweise besser gesagt „wenden“/„gewendet werden“ muss, um seinem eigenen Anspruch gerecht zu werden. Stichwort „Nützlichkeit“. Wie wird Brecht wieder „nützlich“? Jameson argumentiert, dass wir die vielen Vorstellungen, Ideen oder Konzepte, die wir als charakteristisch oder gar identitätsstiftend für Brechts Werk verstehen, nicht als reine Lehre, sondern als der Ordnung der Methode zugehörig, verstehen sollten. Nicht Wahrheit, sondern Mittel. Nicht Kanon, sondern Praxis. Jameson treibt die Frage um, was wir nach den Irrtümern des 20. Jahrhunderts noch glauben können. Das Buch kam 1998 zum 100-jährigen Brecht-Jubiläum heraus. Da war das vielbeschworene “Ende der Geschichte” natürlich noch präsenter als heute. Aber 2023 wie 1998 bleibt die ideologiekritische Frage dieselbe: Welche Mittel stehen uns zur Verfügung, um uns zu entideologisieren? Darko Suvin beschreibt das Brechtsche Theater als einen „kybernetischen Apparat“, welcher den Zuschauern ermöglicht, sich in ihrer spezifischen historischen Situation ihrer Handlungsmöglichkeiten gewahr zu werden …

DAZ: … womit das Werk nicht mehr für sich spricht, nicht zeitlos aktuell bleibt und nicht werkimmanent rezipiert werden kann?!

Warner: Es ist doch offensichtlich, dass die Brechtschen Werke diesem Anspruch heute nur in einem sehr eingeschränkten Sinne gerecht werden können. Und dessen war sich der Autor ja vollumfänglich bewusst. Übrigens findet man die Forderung nach einer Verschiebung des Fokus von den Werken auf die Mittel bereits Anfang der 80er Jahre in der Auseinandersetzung mit Brecht in der DDR. Man darf also mit Fug und Recht behaupten, dass der Fokus auf die Methoden eine Forderung ist, welche „Bertolt Brecht im kalten Krieg“ transzendiert. So hieß ja der famose Artikel vom Theaterkritiker Max Högel, der 1963 in der Augsburger Allgemeinen Zeitung erschien und für viel Furore sorgte. Ich will sagen: Über die Methoden können wir den Kulturkampf um Brecht überwinden.

DAZ: Mit Verlaub, daran glaube ich nicht. Dafür ist Brecht zu politisch. Um Brechts Deutung, um die Deutung der gesellschaftlichen Verhältnisse wird es wohl immer einen Kulturkampf geben. Kämpfe haben auch immer etwas mit Ideologie zu tun. Denk ich an Warner in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht. Und zwar deshalb, weil ich Ihr Festival als Endpunkt der Augsburger Brechtfestivalserie betrachte: Das Ende der Geschichte: Danach kann die Stadt ihren Brechtladen dicht machen, falls Sie Ihre Dekonstruktionskunst drei Jahre durchhalten. Ist es Ihre Absicht, Brecht als modernen Klassiker wie als Autor eines aktuellen Werkes zu dekonstruieren?

Warner: Ich übe die Position als Brechtfestival-Leiter bewusst nicht als Philologe, sondern als Dieb aus. Das entspricht dem armen BB viel eher. Es gilt sich Brecht anzueignen, ihn gar zu enteignen. Das schaffen wir auch mithilfe mit der Brechtmaschine. The Robots are coming! Ich nehme zur Kenntnis, dass Sie der Ansicht sind, dass diese Haltung das Ende des Festivals ist. Ich würde sagen: Im Gegenteil! So halten wir das Erbe am Leben.

DAZ: Brecht und die Liebe, Brecht und der Krieg, Brecht und “das Gespräch über Bäume (Klima)”, Brecht und woke, Diversität und Staat undsoweiter. Brechts Werk gäbe vieles her. Wenn man wollte, bekäme man diesbezüglich sensationelle Künstler nach Augsburg, was ja Ostermaier und Lang gelang. Ich sehe kein einziges Brecht-Werk, keine einzige Theaterinszenierung eines Brecht-Stückes oder etwas anderes aus seinem Werk in Ihrem Programm. Warum veranstaltet die Stadt mit Steuergeldern ein Brechtfestival ohne Brecht? Ich finde das absurd, um ehrlich zu sein. Erklären Sie unseren Lesern bitte dieses Paradoxon!

Warner: I disagree wholeheartedly. Wir haben dieses Jahr ein Star-Aufgebot am Start: Joana Tischkau ist eine preisgekrönte Choreographin. Mukenge/Schellhammer sind DER HOT SHIT in der bildenden Kunst. God’s Entertainment und Club Real sind Legenden der deutschsprachigen Performance-Szene. The List goes on and on und vom Soundlab for Fluid Ways Of Knowing möchte ich gar nicht erst sprechen. Wir haben Global Artists, wir haben Local Artists. Wir haben einen Birthday Bash, für den gerade Besucher aus ganz Deutschland anreisen, um die Reden von Fatma Aydemir, Elisa Aseva und Aras Ören zu hören. Aber ich lese aus Ihrer Frage zwei Punkte ab, die zu diskutieren sind. Erstens, welche Kunstbegriffe liegen der Kuration des Festivals wie auch ihrer Kritik zugrunde. Und zweitens, welche Publika mit welchen Prägungen, Vorerfahrungen, mit welchem Habitus, werden adressiert. Ich habe eingangs das Ende des Kanons beschworen. Folgerichtig diskutieren wir jetzt über das Ende der Deutungshoheit.

DAZ: Herr Warner, bevor Sie Brechtfestival-Leiter wurden, habe ich Ihren Namen noch nie gehört. Das Gleiche gilt nun für die von Ihnen aufgezählten Künstler. Anyway. Kann ja auch an mir liegen. Themawechsel: Bundesweit werden Programme zur Belebung der Innenstädte aufgelegt, weshalb es verwundert, dass es die Stadt Augsburg unkommentiert hinnimmt, dass Sie vieles nach Lechhausen verlegen. Nächstes Jahr wollen Sie nach Oberhausen, wegen der migrantischen Prägungen. Ist das der Grund? Dabei ist Lechhausen gar nicht migrantisch geprägt.  Welchen Mehrwert sehen Sie bei der Innenstadtmeidung?

Warner: Die Stadt Augsburg adressiert in ihrem Stadtentwicklungskonzept ja auch die Frage der Quartiersentwicklung. Wir haben 2023 Lechhausen ausgewählt, weil wir beim früheren Landito oder Speed Döner Imbiss ein pulsierendes Viertel kennenlernen durften. Die Frage der lebenswerten Stadt wird heute ja viel vielfältiger diskutiert. Es geht auch um lebenswerte Quartiere, mit eigener Geschichte. Augsburg, das sind die Vielen. Die vielen verschiedenen Menschen, aber auch die vielen verschiedenen Orte und Zentren.

DAZ: Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass in Lechhausen etwas passiert, das es über den Lech in die Stadt hinein und darüber hinaus schafft. Sie schätzen sich selbst als Dilettanten ein und haben eine starke Affinität zur “Die große Untergangs-Show – Festival Genialer Dilletanten” genauso geschrieben, damals in Berlin. Was macht in Ihren Augen Dilettantismus so bedeutsam?

Warner: Auch wenn es Widerstände hervorruft. Ich bin der Überzeugung, dass das Dilettieren als Methode nützlich ist, um Brecht selbst wieder nützlich zu machen. Das Neue ist immer ein Affront. Aber er selbst interessierte sich auch lieber für die BAD NEW THINGS als für die GOOD OLD THINGS.

DAZ: Bei Wengenroth habe ich im Vorfeld das Programm gelobt und mich während des Festivals fast durchgehend gelangweilt. Damals dachte ich, ich werde langsam zu alt für den diskursiven Brecht-Hype. Heute lese ich Ihr Programm und denke, dass ich dafür tatsächlich zu alt bin. Mich interessiert quasi gar nichts, außer die Brecht/Neher-Ausstellung, die nicht zum Festival gehört, wie wohl auch das Staatstheaterformat “Bier mit Bert” und vielleicht die Bremer Vorstellung. Woran liegt das? Was können Sie den Bürgern über 60 aus Ihrem Programm empfehlen? Warum sollen wir hingehen und nicht Netflix gucken?

Warner: Wenn Sie Lust an neuen Erfahrungen haben ohne didaktischen Zeigefinger, dann sind sie bei mir goldrichtig. Ab in die Sauna(h).

DAZ: So kurz vor dem Start. Ist es Ihnen nicht mulmig? Haben Sie keine Angst davor, dass Ihnen Ihr Festival um die Ohren fliegt und als Karnevalsveranstaltung in die Stadtgeschichte eingeht?

Warner: Nachdem der bayerische Kunststaatsminister zur Eröffnung am 10. Februar leider verhindert ist, weil er mit dem gesamten Kabinett an einer Fastnachtsitzung in Franken teilnehmen muss, würde ich die Einordnung des Brechtfestivals als „Karnevalsveranstaltung“ durchaus als Aufwertung verstehen.

DAZ: Herr Warner, vielen Dank für das Gespräch. ————– Fragen: Siegfried Zagler



Brechtfestival

Die Stadt als Brecht-Labor

“Ein junger Typ mit Klampfe, der mit seiner Clique am Lech abhängt. Ein eigensinniger Poet, der in Kneipen und auf Plätzen als Sänger und Erzähler auftritt. Ein Rebell, der Spießertum und Kriegsverherrlichung verachtet. Einer, der leicht mit Frauen anbändelt. Der spielt und schreibt und feiert und schreibt und liebt und schreibt und experimentiert. Und das ziemlich exzessiv.”

Julian Warner © Fabian Schreyer/Stadt Augsburg

So poetisch beginnt der Pressetext des städtischen Brechtbüros.  Weiter heißt es im Text wörtlich: “In seiner Heimatstadt Augsburg kochte Brecht die Ursuppe seiner Verfahrensweisen und Theorien, mit denen er später die Theaterwelt revolutionieren wird. Brecht ist ohne das Milieu, ohne dieses Experimentierfeld nicht denkbar. Seine Vorliebe für prozesshaftes, kollektives, genreübergreifendes Arbeiten, die Vorboten des Epischen Theaters: Hier sind sie schon zu finden.”

Weg vom Was, hin zum Wie

Diese Perspektive greifen Festivalleiter Julian Warner und sein Team auf. Unter der Überschrift „Die Große Methode“ nehmen sie Brechts Arbeitsweise in den Fokus, machen sie sich zu eigen und Augsburg erneut zu einem Labor.

Im Jahr 2023 wird nicht nur Brechts 125. Geburtstag gefeiert, sondern auch danach gefragt, was es bedeutet, heute sein Erbe anzutreten. Blickt man dabei insbesondere auf Brechts Verfahrensweisen, so lassen sich Verbindungen in die Gegenwart ziehen, zu „Brecht’s People“ – Zeitgenossen, die heute eine künstlerische Praxis a la Brecht pflegen.

Auf diesem Weg setzt sich das Warner-Brechtfestival mehr stärker mit der Stadt und den Menschen, die hier leben, auseinander. Besonderes Augenmerk liegt 2023 auf dem Stadtteil Lechhausen, dem Mittelpunkt des diesjährigen Brechtfestivals.

„Wir verabschieden uns von der gut eingeübten Frage nach der Aktualität des Brecht’schen Werkes und widmen uns stattdessen der Erforschung Brecht’scher Welten. Wir finden sie in den Nischen unserer Städte. Dort, wo die Kämpfe der Gegenwart stattfinden und die Grenzen von Ästhetik und Politik verschwimmen: Dort treffen wir auf Brecht’s People.“ So Julian Warner, der neue künstlerische Leiter des Brechtfestivals.

Festivalauftakt an Brechts 125. Geburtstag

Das Festival startet am 10. Februar 2023, Brechts 125. Geburtstag, mit einer Parade, die vom Goldenen Saal im Augsburger Rathaus nach Lechhausen führt. Beim abendlichen Festbankett mit Damian Rebgetz halten die Autorinnen und Autoren Elisa Aseva, Fatma Aydemir und Aras Ören Geburtstagsreden an den Jubilar. Als Gäste werden u. a. Oberbürgermeisterin Eva Weber, MdL Markus Blume und Kulturstaatsministerin Claudia Roth erwartet.

Das Staatstheater Augsburg ist Kooperationspartner des Brechtfestivals und für seine innovative Digitalsparte bekannt, die in der diesjährigen Zusammenarbeit von besonderer Bedeutung sein wird. Mit Kybernetik und Künstlicher Intelligenz wird Brecht in die Zukunft katapultiert – und per Gespräch, Diskussion, Schreibwerkstatt und szenischer Lesung ins Festival gebeamt.

Zum weiteren Programm gehören u. a. Gastspiele des Theaters Bremen und des Berliner Ensembles, eine Ausstellung zu verdrängten (Stadt) Geschichten, ungewöhnliche musikalische Fusionen und eine Wrestling-Show, bei der Augsburger Konflikte im Ring ausgetragen werden. Das Festival endet am 19.02.2023, dem dritten Jahrestag der rassistischen Morde in Hanau, mit „Say Their Names“, einem kollektiven Erinnern an Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili-Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin.

„Die Entdeckung der Stadt über Brecht als Methode macht das Erbe des großen Literaten und Theatermachers greifbar, erfahrbar und verwebt sich mit unseren unterschiedlichsten Alltagswelten. Über diese neuen Zugänge verankert der Festivalleiter Julian Warner den großen Künstler Brecht über die Brecht’sche Methode in der DNA der Stadt. Er wird Teil der Stadt.“ So kommentiert Augsburgs Kulturreferent Jürgen K. Enninger das neue Festivalkonzept.

Aus scheinbar unmöglichen Begegnungen Neues schaffen

Julian Warner möchte Brechts Werk neuen Bevölkerungsgruppen gegenüber öffnen, das kulturelle Erbe neu legitimieren. Mit dem Festival entsteht idealerweise ein eigener Raum, ein Klima, ein Space, in dem Werk und Arbeitsweise, Forschung und Methodik, Kunst und Politik, Hochkultur, Stadtteilalltag und Experiment mit der Kulturpraxis unterschiedlicher Communities in Kontakt kommen können. Wo gibt es Schnittstellen? Was entsteht Neues daraus?

Das gilt auch für das Musikprogramm des Festivals. Unter dem Stichwort „Impossible Music“ betreten die beiden Kuratoren Markus Acher und Girisha Fernando das Spielfeld von Brechts Methode und öffnen es für einen internationalen, stilübergreifenden musikalischen Austausch mit Künstler*innen aus Uganda, Japan, der Türkei, Großbritannien, der Ukraine und Deutschland.

Stadtteil Lechhausen ist Festivalzentrum

Das Brechtfestival bespielt weiterhin Spielorte wie die Bühnen des Staatstheaters, das Staatliche Textil- und Industriemuseum, Brechthaus und Provino Club. Und es erschließt zusätzlich neue Räume. Die Festivalzentrale befindet sich im Saalbau Krone, dem Sitz des Oberbayrischen Volkstrachtenvereins Augsburg-Lechhausen e.V. Hier treffen sich seit Oktober monatlich „Brecht’s People“ – Personen und Gruppen, die am Festival beteiligt sind oder sich dafür interessieren. Der Saalbau Krone im Herzen von Lechhausen ist der Dreh- und Angelpunkt für alle Festivalbesucher und für Brecht’s People. Hier trifft man sich vor, nach und zwischen den Veranstaltungen auf ein Getränk, tauscht sich über Gesehenes aus und bekommt Tipps zu weiteren spontanen Festivalaktionen im Stadtviertel.

Die Gastgeber:innen vom Trachtenverein sind mit „Ankommen, Weitertanzen. Ein Lechhauser Hoigarten“ im Festival vertreten, ebenso wie die Alevitische Gemeinde („Brecht aus der Türkei“). In deren Saal in der Bozener Straße finden gleich mehrere Veranstaltungen statt. Eine leerstehende Sparkassenfiliale wird zur Bühne ebenso wie auch die urige Saunawelt mitten im Lechhauser Wohngebiet. Das Augsburger Ensemble Bluespots Productions zeigt dort „Saunah – ein Drama in drei Aufgüssen“. Mit „Der Geist der Taverne“ präsentiert die Regisseurin Dorothea Schroeder ein Audiofeature rund um Lechhauser Kneipen in der Stadteilbücherei.

Konflikte zu Kunst: Das Brechtfestival als Verhandlungsspielraum

Das Brechtfestival praktiziert, produziert und lädt alle dazu ein, sich am Gesamtkunstwerk-in-progress zu beteiligen. Mehr Prozess, mehr Versuch, mehr Machen als Sein. Weg vom Genius, hin zum Experiment. Weg von Brecht, hin zu Brecht’sch.

Das Programm soll als Einladung zum Hinsehen, Hingehen, Neusehen, Entdecken, Mitmachen, Erfahren, Erfinden verstanden werden.  Durch Dialog und Kunst kann eine gesellschaftliche Veränderung zum Besseren hin ermöglicht werden. Das Verhandeln drängender Fragen, Kunst, Politik – alles gehöre zusammen, ganz im Geiste Brechts. „Das Brechtfestival muss ein Ort sein, wo zusammen um Ideen und Haltungen gerungen werden darf – auch kontrovers. Das müssen wir alle aushalten.“, so Julian Warner.

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Das Programm

Brechts Gespenster – Foto: © Jörg Brüggemann

„Brecht“, „Augsburg“, „Musik“ lauten die drei Fährten durch das Festivalprogramm. Hier einige Auszüge:

Veranstaltungen mit direktem Bezug auf Brecht und sein Werk:

Unter dem Titel „Brechtmaschine“ arbeitet das Festival in Kooperation mit dem Staatstheater Augsburg mit Möglichkeiten und Herausforderungen der digitalen Welt. Könnte eine Künstliche Intelligenz Texte generieren, die sich für echte Texte von Bertolt Brecht halten lassen? Und würde man eine Künstliche Intelligenz, an sämtlichen zugänglichen Daten des Internets geschult, anweisen, als Bertolt Brecht zu antworten: Was hätte ein derart revitalisierter Brecht zu den Dilemmata der Gegenwart zu sagen? In einem großen, kollaborativen Mensch-Maschine-Schreibprozess arbeiten eine Künstliche Intelligenz und Interessierte an einem Theaterstück, das wenig später uraufgeführt wird.

„Futurioso“, die technofuturistische Late-Night-Show des Staatstheater Augsburg, die monatlich auf twitch.tv ausgestrahlt wird, präsentiert eine Sondersendung zum Augsburger Brechtfestival mit einem Sonder-Spezial-Gast: dem Geist Bertolt Brechts.

Das Theater Bremen zeigt „Leer/Stand – Der Brotladen oder: Wem gehört der Stadtraum?“ von Antigone Akgün frei nach Bertolt Brecht. Ausgehend von Brechts Fragment verwandelt Antigone Akgün mit ihren Spieler*innen einen Leerstand in der Blücherstraße in einen Erzählraum mit Schauspiel, Videos und Installationen. 

2021 und 2022 waren Suse Wächters „Helden des 20. Jahrhunderts“ absolute Publikumslieblinge und sorgten für „Glück im Stream“ (SZ). Beim Brechtfestival 2023 kehren einige alte Held:innen mit neuen Dämonen zurück – live im martini-Park, der großen Bühne des Staatstheater Augsburg: In „Brecht’s Gespenster“ wird Bertolt Brecht von den zahllosen Geistern heimgesucht, die er in seinem Exil und bei seiner Wiederkehr nach Berlin getroffen hat. Zusammen mit zwei Musikern und einem Puppenspieler zelebriert das Ensemble um Suse Wächter eine abendliche Séance, in der die kleinen Puppen mit der großen Aura ihr Spiel spielen.

Bertolt Brechts Stücke werden spätestens seit den 1960er Jahren auch immer wieder in der Türkei gespielt. Die Alevitische Gemeinde Augsburg e.V. präsentiert mit „Brecht aus der Türkei“ einen Abend mit Gespräch, Lesung und Musik.

Sieben Rosen hat der Strauch“ ist ein musikalisches Geburtstagsgeschenk mit feministischer Note: Die kenntnisreichen Interpretinnen Karla Andrä, Stefanie Schlesinger, Alexandrina Simeon, Anna Holzhauser, Isabell Münsch, Ute Legner und Eva Gold bringen Brechts Lyrik auf die Bühne.

Kurt Idrizovic führt im literarischen Vorstadt-Spaziergang „O die unerhörten Möglichkeiten – Brecht in Lechhausen“ das Publikum an die Originalschauplätze, an denen der junge Bertolt Brecht schwamm, dichtete und liebte.

Augsburg: mit Brecht’schen Methoden aus dem lokalen Kontext Neues schaffen

Wie funktioniert eigentlich Gesellschaft, wie Politik? Das mehrjährige Multispezies- Stadtprojekt „Organismenrepublik Augsburg“ mit der Berliner Künstler:innengruppe Club Real macht es erfahrbar.

Vergessene Geschichten, verdrängte Themen: God’s Entertainment geben mit „Unter dem Teppich“ eine Möglichkeit, ihnen eine neue (sichtbare) Form zu geben. Beim gemeinsamen Weben läuft die Auseinandersetzung mit dem großen Sohn der Stadt wie am Schnürchen.

Widersprüche, Konflikte, Diskussionen: Brechtfestival goes Wrestling – und den Plot dazu liefert die Stadt. Bei „Kampf um Augsburg – eine Wrestlingshow“ wird um heikle Themen buchstäblich gerungen. Politisches Theater im besten Sinne. Mit besonderem Unterhaltungsfaktor.

Murat Güngör, Ex-Rapper und Mitbegründer des antirassistischen Netzwerks „Kanak Attak“, und Hannes Loh, ehemaliger Rapper bei der Gruppe „Anarchist Academy“, lassen in ihrer Lecture „Remix Almanya“ die Anfänge des deutschen Hip-Hops aus der postmigrantischen Szene Revue passieren.

Lechhausen, einst klassisches Arbeiterviertel, ist heute Wohnort vieler prekär Beschäftigter mit und ohne Migrationsgeschichte. Wie hat sich das Viertel in den letzten 30 Jahren verändert? Was treibt die Leute um, was hat sie damals umgetrieben? Die Regisseurin Dorothea Schroeder hat sich in der hiesigen Kneipen-Szene umgehört und die Essenz in das Audiofeature „Der Geist der Taverne“ gegossen.

Der Oberbayrische Volkstrachtenverein Lechhausen e.V. reflektiert in „Ankommen, Weitertanzen. Ein Lechhauser Hoigarten“ die eigene Geschichte – als Nachfahren von Zugereisten aus dem bayerischen Oberland, um in den Industriewerken Augsburgs zu arbeiten. Lechhauser Heimatfusion mit Kapelle, Platteln und Drah’n und eine Einladung zum Mittanzen!

Der rassistische Anschlag von Hanau am 19. Februar 2020 jährt sich am letzten Tag des Brechtfestival zum dritten Mal. Das Memorial soll Versammlung und gemeinsames Gedenken ermöglichen: „Say Their Names – Ein kollektives Erinnern“. Lesung, Film und Gespräch für Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili-Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin. Mit: Asal Dardan, Senthuran Varatharajah, Cana Bilir-Meier, Forensic Architecture, Düzgün Polat.

Musik: Ein Programm zwischen politischem Realismus und utopischer Kraft

Die Brechtnacht mit dem Titel „Impossible Music“ wird 2023 kuratiert von Markus Acher und Girisha Fernando. Impossible Music sucht den Exzess, das Überraschende und Unwahrscheinliche in der Musik. Der junge rebellische Brecht steht für diesen Abend Pate. Er inspiriert Musiker*innen, die Grenzen ausloten, drängende gesellschaftliche Fragen aufgreifen und gegen die Krisen der Welt antanzen. Gaye Su Akyol aus Istanbul eröffnet den Abend im Staatlichen Textil- und Industriemuseum mit einem Mix aus türkischer Psychedelica, Post-Punk, Grunge und Surf Rock. Nakibembe Xylophone Troupe aus Uganda und The Notwist laden das Publikum ein, an ihrer transkontinentalen Session mit Embaire, Gitarren und Electronics teilzunehmen. Im Provino heizen Zayendo mit experimenteller japanischer Brassmusik und Malphino aus London mit tropisch-psychedelischen Rhythmen ein.

2021 begeisterten die Dakh Daughters aus Kiew beim digitalen Brechtfestival mit zwei neuen, von Brecht inspirierten Songs die internationale Festivalgemeinde: Sechs Frauen haben sich einem bizarren, ästhetischen und poetischen Mix verschrieben, einem „Freak Cabaret“ aus ukrainischer Folklore, Punk, Kabarett, Prog-Rock, Klassik und mehrsprachigen Texten von u. a. Taras Schevchenko, Joseph Brodsky und William Shakespeare. Gesungen wird in fünf Sprachen, gespielt auf 15 Instrumenten, von Cello bis Oboe. Die Dakh Daughters sind eines der relevantesten Musikprojekte der Ukraine und aktuell im Exil auf Tour durch Europa mit der Produktion „Ukraine Fire“ – ein Zeichen gegen den Krieg. Live beim Brechtfestival 2023.

Franz Dobler & Das Hobos präsentieren: „Wer macht den Dreck und wer macht die Wäsche?“ Die Augsburger Band Das Hobos macht Musik, die nach Geräteschuppen genauso wie nach weiter Welt klingt, ein „Contemporary Railway Soundtrack“, aber zu entspannt für deutsche Zugfahrpläne. Im Zusammenspiel mit der Live-Performance des Schriftstellers Franz Dobler entsteht ein Klang- und Denkraum, in dem sich Rhythmen in Reflexionen fortsetzen und handgemachter Groove auf leisen Witz trifft.

Impossible Orkestra (Augsburg / München) feat. Alabaster DePlume (UK): In Komplizenschaft mit dem britischen Saxophonisten, Komponisten und Poeten Alabaster DePlume und zwölf Musiker:innen aus Augsburg und München wagt das Brechtfestival ein musikalisches Experiment.

Das „Sound Lab for Fluid Ways of Knowing“ bringt mit Sound und Sprache arbeitende Künstler:innen, die in Ghana und Deutschland leben, in einen Prozess künstlerischer Forschung zu Methoden der Fluidität, Oralität, Non-Dualität, des Prozesses und der Improvisation. Das Sound Lab läuft die gesamte Woche des Brechtfestivals. Dabei werden die Künstler*innen über Workshops und andere Interventionen immer wieder öffentliche Einblicke in ihre Prozesse und Arbeiten geben.

Brechtfestival Warm Up und Festwoche des Staatstheaters

Vom 12. Januar bis 5. Februar bietet das Warm-Up Programm des Brechtfestivals verschiedene Möglichkeiten an, sich einzuklinken und einzustimmen. Das Staatstheater Augsburg präsentiert dazu unter dem Motto „Bier mit Bert“ eine Festwoche mit Lesungen, Musik und Experimentellem im Alten Rock Café, dem Saalbau Krone und der ehemaligen Geschäftsstelle der Stadtsparkasse Augsburg in der Blücherstraße.

Das komplette Programm gibt es auf der Webseite: brechtfestival.de
Instagram: instagram.com/brechtfestival/ Facebook: facebook.com/brechtfestival/ Twitter: twitter.com/BrechtfestivalA 



Eine ganz persönliche Brechtfestival-Bilanz

Es ist vorbei! Und als es vorbei war, dachte ich, es ist gut, dass es vorbei ist. Ich dachte nicht: endlich! oder Gottseidank! Auch nicht: schade! Ich dachte nur: gut, dass es vorbei ist.

Von Knut Schaflinger

Denn:
• der Kopf rauschte – das kam vom Hören, vom Schauen, vom Wegsehen, vom Staunen, vom Reden und, vielleicht, vom Nachdenken auch.
• die Beine schmerzten – das kam vom vielen Anstehen, vom viel zu langen Warten, vom Hin- und Hergerenne.
• der Nacken rebellierte – das kam zunächst einmal vom Wenden des Halses von der Bühne zu den Monitoren und wieder zurück. Ein andermal vom Suchen, wo es Bier gäbe und wo jemand zu finden wäre, der einem sagen würde, wie man reinkäme, dort, wo man rein gehen wollte. Ging aber nicht.

Natürlich stimmt es, wenn Jürgen Kuttner sagt: »Wenn auf dem Rummel die Geisterbahn voll ist, dann ist sie eben voll.« Na klar, wenn die Nacht finster ist, ist sie eben finster! Aber wenn der Rummel als Schmalspurbahn daher kommt, ist der Rummel eben falsch geplant.

So war denn, was ich sehen konnte, nicht immer, was ich sehen wollte. Und wo ich Platz fand, fand sich auch noch reichlich Luft nach oben.

Wegen Überfüllung geschlossen! Das mag, der Zahlen wegen, die Veranstalter freuen, da mag sich, als marktwirtschaftlicher Coup, die Neuausgabe von Karten gelohnt haben, fürs Publikum ist es, wenn es zum Programm gemacht wird, ein Ärgernis. Von den Horatiern kommend, bei Charly Hübner anstehen – vergeblich! Auf Wuttke wartend, von der »Mini Playbrecht«-Show leidlich amüsant für Anspruchslose unterhalten, vom Standplatz auf der Treppe im Foyer nach einer halben Stunde mit dem Hinweis vertrieben, dieser Aufstieg sei frei zu machen, weil ein Fluchtweg.

Ja, flüchten, das wollte ich. Oft!

Aber dann kam doch noch Martin Wuttke, ich blieb, an die Wand gedrückt und geklebt und auch Martin Wuttke klebte Buchstaben an die Wand, so als wäre kein Platz mehr für Sprache und Text. Versalien zunächst, sinnfrei, und irgendwie ahnte man, neu geschüttelt und gerüttelt, könnten sich daraus die Worte »Der Schnittchenkauf« zusammensetzen lassen, aber da würde ein Buchstabenrest bleiben und so, ja, als Überbleibsel, hörte sich auch der Text auch an, den Marin Wuttke uninspiriert vorzulesen sich vorgenommen hatte. Aus den Gedanken von René Pollesch, bald Intendant der Volksbühne Berlin, konnte zumindest ich mir kein Schnittchen, geschweige denn eine Scheibe Erkenntnis abschneiden.

Also doch flüchten? Oder würde gar Brecht höchstselbst zu uns sprechen: »Geschichten, die man versteht, sind nur schlecht erzählt.« Alles gut also?

Nein! Es reicht eben nicht, was die Kuratoren schon im Dezember bei der Vorstellung des Programms anmerkten, nämlich mit Leuten wie Martin Wuttke keinen Vertrag zu machen. Der kommt einfach. Und wie. Netzwerk ist gut, Stars sind gut, Engagement und Ernsthaftigkeit wären es auch.

Dann gäbe auch keinen Grund zum Meckern. Wie überhaupt die Kuratoren ihre Arbeit unter der Zirkuskuppel mit einem ziemlich simplen Trapez zu sichern vermochten: alles spontan, alles im status nascendi. Da wurde schon vor Beginn gegen Kritik vorgebeugt und gegen Erwartungen auch. Das Nichtfunktionieren als neue Qualität etikettiert. Bei allem Wohlwollen: Das reicht aber nicht!

Gewiss, es gab großartige Momente. Berührende. »Der Auftrag. Eine Erinnerung an eine Revolution«. So geht Theater. Episches. »Das Wesentliche am epischen Theater ist vielleicht, dass es nicht so sehr an das Gefühl, sondern mehr an die Ratio des Zuschauers appelliert. Nicht Miterleben soll der Zuschauer, sondern sich auseinandersetzen.« Sagt Brecht. Bingo! Das hat geklappt. Großartig Corinna Harfouch. »Der Auftrag«, eine Koproduktion des Schauspiels Hannover mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen, zum Auftakt präsentiert, freilich schon fünf Jahre alt.

Warum aber in die Ferne schweifen, läge das Gute doch so nah. Produktionen aus Augsburg, ja das gabs auch. Gutes Schülertheater. Engagiert. Aber lässt sich damit wirklich Staat machen? Oder nur aus der Not eine Tugend? Zu geringer Etat, zu wenig Planungssicherheit, zu kurzer Vorlauf? Das müsste die Stadtpoltitik klären. Endlich! Und wenn sie es nicht kann: nachdenken! Länger!

Über den »Švejk/Schwejk« zum Beispiel, eine Koproduktion des Staatstheaters Augsburg mit den Städtischen Bühnen Prag. »Da will ich mir mal«, mit Brecht, »das Maul verbrennen.«: Das war entschieden zu wenig, ging an mir, dem Zuschauer, buchstäblich, vorbei. Die Übersetzungen aus dem Tschechischen von Monitoren in der Größe von Zündholzschachteln lesen zu müssen, nenne ich eine Zumutung. Es nötigt mich, meine Aufmerksamkeit entweder dem Geschehen auf der Bühne oder dem Text zu widmen – ganz so, als wollte mir die Regie irgendetwas verbergen. Dass die Produktion am Ende die Entprofessionalisierung des Theaters als Klamauk ausgibt, ist den Statisten nicht anzulasten, aber Sätze wie: »Du sollst nur sprechen, wenn du gefragt wirst«, oder »der Mensch ist alles«, oder so ähnlich, nein, da will ich dann, wieder mit B.B. »nichts lieber, als etwas anders.«

Lars Eidinger vielleicht. Der uns den Brecht aus der Hauspostille vorträgt, wie er sich abgearbeitet hat an den Rändern der Gesellschaft. Ja, da blitzte mir jener Geist auf, der mich rief, endlich zu hören und zu sehen, weswegen es sich hätte lohnen können, Gast beim Brechtfestival gewesen zu sein.

Und die Lange Brechtnacht? Schön, dass die Bude voll war – aber, dass der Großteil des, großartiger Weise, vor allem jugendlichen Publikums, Voodoo Jürgens wegen kommen würde, hätten die Veranstalter ahnen können. Den Wiener und sein Publikum in eine Schuhschachtel zu zwängen nenne ich mangelnde Weitsicht. Oder man kennt sein Publikum nicht. Oder nimmt es nicht ernst.

Und Brecht an diesem Abend? Na gut, Hauptsache die Leute versammeln sich hinter seinem Namen und denken, wenn Voodoo Jürgens mit Wiener Schmäh und hinterfotzig singt »Heite grob ma Tote aus« an a scheene Leich!

Derweil sich The Notwist mit dem Rechner quälte, Gisbert zu Knyphausen mit der Stimme, hing ein Teil des Publikums zwischen Tür und Angel fest. »Eine kleine Festivität kann nicht schaden«, hat uns Brecht gelehrt.

Summiert sich all diese Beliebigkeit zu einem Festival, trägt das über zehn Tage, hat all das Fragen gestellt, beantwortet? Nein! Es blieb ein bunter Haufen Konfetti, in der Faschingswoche manchmal kühn, manchmal delikat aber, wie mir schien, zu häufig probeweis nur in die Luft geworfen und vom Wind verblasen. Immerhin: ein Zentrum im martini-Park. Immerhin: auch Handwerk. Immerhin: überraschende, witzige, gute Gespräche in den Warteschlangen. Aber: zu viel Zufall, zu viel unfertige Werkstattberichte, zu viel Planloses. Zu wenig Inspiration. »Das Chaos ist aufgebraucht.«

»Reden über Angelegenheiten, die durch Reden nicht entschieden werden können, muss man sich abgewöhnen.« Sagt Brecht.

Schwamm drüber!                     ——-    (Erstveröffentlichung in a3kultur)

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Knut Schaflinger, geb. 1951 in Graz/Österreich, Studium in Wien, bis 1995 freier Filmemacher beim Bayerischen Fernsehen in München. Bis 2016 Redakteur und Chef vom Dienst bei den ARD-Tagesthemen in Hamburg. Ehemals Dozent an der Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg und an der Bayerischen Akademie für Fernsehen in München. Wohnhaft in Augsburg.

 



Mit kleinen Schritten zur besseren Welt: Die Verleihung des Brechtpreises 2020 an Sibylle Berg

Es gibt ihn jetzt schon seit 25 Jahren, den Augsburger Brechtpreis. 1995 wurde er unter großem Medienrummel an das Enfant terrible Franz Xaver Kroetz verliehen – auch heuer fand die die Jury mit Sibylle Berg eine würdige Preisträgerin.

Von Halrun Reinholz

Kulturreferent Thomas Weitzel, Sybille Berg, Bürgermeisterin Eva Weber © DAZ

Die Preisverleihung war damals ein gesamtgesellschaftliches Ereignis, zumal Kroetz auch noch in der prominenten Begleitung seiner damaligen  Ehefrau, der Schauspielerin  Marie Theres Kroetz-Relin, und auch seiner berühmten Schwiegermutter Maria Schell zur Preisverleihung nach Augsburg kam. Für viele war Franz Xaver Kroetz ein Kommunist und deshalb als Preisträger nicht vertretbar. Doch genau das war auch für die Jury ein Anknüpfungspunkt an den Namensgeber des Preises. Der „Kommunist“ Brecht  war der Grund, warum sich die Geburtsstadt so lang schwer getan hatte mit der Würdigung ihres berühmten Sohnes. Die Diskussion verlief in der Jury weniger kontrovers als befürchtet und auch die Stadt hatte keine Einwände gegen den Preisträger.

Zum 25. Jubiläum des Brechtpreises beleuchtet eine Sonderbeilage der Augsburger Allgemeinen Zeitung  die Entstehungsgeschichte des Preises und widmet jedem der Preisträgerinnen und Preisträger eine Seite. Mit Sibylle Berg sind es nun zehn. Sie alle eint die vom Stadtrat beschlossene Vorgabe, dass der Brechtpreis an Autoren verliehen wird, die sich, wie Brecht, in ihrem literarischen Schaffen durch eine „kritische Auseinandersetzung  mit der Gegenwart“ auszeichnen.

Als Preisträgerin für 2020 wählte die Jury Sibylle Berg aus. Bürgermeisterin Eva Weber gab in ihrer Begrüßungsrede unumwunden zu, dass ihr Sibylle Berg hauptsächlich durch ihre Kolumnen im „Spiegel“ bekannt sei – Kolumnen, die ihr immer wieder positiv ins Auge fallen, weil  sie zur aktiven Mitbestimmung aufrufen und damit gegen das Ohnmachtsgefühl mobil machen, das einen angesichts der gesellschaftlichen Wirklichkeit immer wieder überwältigt. 

Die junge Autorin wurde im DDR-Weimar geboren, kam um die Mitte der 1980er Jahre in den Westen und lebt heute in Zürich und Tel Aviv. In ihren 25 Theaterstücken und 14 Romanen setzt sie sich mit der Realität der Gesellschaft auseinander – mit Zorn, aber auch Empathie. Eva Weber sieht in ihre eine „auf- den-Hut-Hauerin“ im Sinne des Brechtschen Gedichtanfangs: „Der Mensch ist nicht so gut/Drum hau ihm auf den Hut.“ 

In ihrer Laudatio bescheinigte ihr die Literaturchefin der FAZ Sonntagszeitung Dr. Julia Encke ein Gespür für menschliche Abgründe, das sie in einer rhythmisierten Sprache  eindrücklich artikuliert. Mit Brecht verbinde sie auch ein eigentümlicher Humor der Kategorie „glotzt nicht so romantisch“. Eine radikal praktische Grundhaltung, immer wieder durch Ironie gebrochen, bestimmt ihre Sicht auf die erkundete Welt, die sie, scheinbar unbeteiligt, zu erklären versucht. 

In der Begründung der Jury wird Sibylle Berg bescheinigt, dass sie ihren Lesern nichts erspart, „auch nicht die Verantwortung, aus dem zu lernen, was sie da lesen oder sehen.“ Was für ein glücklicher Zufall, dass das Theater Augsburg in dieser Spielzeit eines der Stücke von Sibylle Berg auf dem Spielplan hat! Aus dem Theatertext: „Und jetzt: Die Welt“ zeigten die Schauspielerinnen Marlene Hoffmann, Linda Elsner und Karoline Stegemann den Besuchern der Preisverleihung einen Ausschnitt. Es handelt von der Orientierungslosigkeit junger Menschen im schnelllebigen Medien-Zeitalter. Aus aktuellem Anlass  erhielt die eigentlich für einen eher kleinen Kreis gedachte Produktion in der SOHO-Stage nun weitere Aufführungstermine.

Sibylle Bergs Dankesrede ließ einiges von ihrer Ironie durchschimmern. Die Weltrettung sei ihre Sache nicht, denn die Reaktionen von Diktatoren auf Brandreden von Schriftstellern wie ihr seien im allgemeinen „überschaubar“. Sie glaube auch nicht daran, dass Worte den „Drang der Menschheit zur Selbstausrottung“ verhindern können. Ihr gehe es vielmehr darum, die kleinen Dinge im eigenen Umfeld zu verändern. Ein besonderes Anliegen sei ihr, das Augenmerk auf die Rollenbilder zu werfen, die immer noch von einer sehr männlichen Warte geprägt sind. Es gehe ihr darum, den Unterrepräsentierten Mut zu machen, ihnen Wege aufzuzeigen und die Kanons zu verändern, die nach wie vor „von Männern befüllt“ werden. Die weibliche Beharrlichkeit der kleinen Schritte, findet sie, zahle sich letztlich aus – im Kleinen zu kämpfen, im Rahmen des Möglichen. Dass sie dafür sogar einen Preis bekommt, empfand sie als passende Bestätigung ihres Bemühens.

Für die musikalische Umrahmung des Gala-Abends sorgte die Düsseldorfer Band „Kreidler“ (Andreas Reihse – Synthesizer, Thomas Klein – Perkussion, Alex Paulick – Bass), mit der Sibylle Berg bereits öfter aufgetreten ist. Die etwas aus der Zeit gefallenen Synthesizer-Klänge  erzeugten eine 1970er-Jahre-Stimmung abseits des aktuellen Mainstream, der von Bürgermeisterin Weber bei der Verabschiedung gesondert gewürdigt wurde, mit dem Hinweis, dass „solche Musik viel zu selten im Goldenen Saal  gespielt wird“. Auch ohne Brandreden erwies sich der Abend als nachhaltiger Impulsgeber für die kleinen Schritte zur besseren Welt.



Brechtfestival: Vom Leben auf der Straße

Ein Gastspiel des Berliner Ensembles eröffnet das Brechtfestival im Martinipark

Auf der Straße: Foto © Julian Röder

Zum dritten und letzten Mal ist Patrick Wengenroth der Macher des Augsburger Brecht-Festivals. Deshalb wird schon „beim Beginn vom Ende geredet“, wie Intendant André Bücker bei der Eröffnung launig verlauten ließ. Ein Schwerpunkt des Festivalleiters war von Anfang an die Einbindung der freien Theaterszene in Augsburg, weshalb auch an diesem Eröffnungsabend parallel mehrere Premieren liefen, die das Publikum zur Entscheidung drängten. Im Martinipark gab es zur Eröffnung eines der in der Ära Wengenroth eher seltenen Gastspiele mit hohem Erwartungswert: Das Berliner Ensemble kam mit einer Inszenierung von Karen Breece – nicht etwa eines Brecht-Stückes, sondern mit von der Regisseurin selbst geschriebenem „Dokumentartheater“, das sowohl Schauspieler, als auch Menschen „von der Straße“ auf die Bühne bringt. 

„Von der Straße“ im wahrsten Sinne des Wortes, denn Karen Breece hat, wie sie in der Einführung ausführlich erläuterte, mit vielen Menschen Interviews geführt, die in Armut oder Obdach leben, aber offensichtlich „Teil unserer Gesellschaft sind“.  Die Erkenntnisse aus diesen Gesprächen fließen in das Stück ein – und hinterlassen bei den Zuschauern tiefste Betroffenheit. Drei der Darsteller sind „echt“, sie erzählen über ihr eigenes Leben. Biographien, die mehr oder weniger vielversprechend begonnen haben, aber durch die unterschiedlichsten Umstände eine Wendung in die Sackgasse nahmen. Da ist René Wallner, der tagsüber nicht als Obdachloser erkannt werden möchte. Darum hat er ein Versteck für seine Tasche, die er für die Nacht braucht: Mit Isomatten und Ikea-Decken sucht er immer dieselbe Bank auf, um da zu schlafen. Und den Platz weiß er auch zu verteidigen – mit einer stets griffbereiten Fahrradkette. 

Oder da ist Alexandra Zipperer, eine Kunsthistorikerin, die wegen Krankheit in Not geraten ist. Nach Abzug aller Fixkosten bleiben ihr gerade mal 27 Euro für ihren Lebensunterhalt, deshalb ist sie auf die Tafel angewiesen und muss zudem die Schikanen der Sachbearbeiterin des Sozialamts  erdulden. Oder „Psy Chris“, der vom Stiefvater misshandelt wurde und seit seiner Jugend auf der Straße lebt. Andere Schicksale werden als „Kunstfiguren“ von den Schauspielern (Bettina Hoppe und Nico Holonics) dargestellt. Etwa die alleinerziehende Mutter, die auch auf die Tafel angewiesen ist, aber sich von den dort mit „Jogginghosen“ anstehenden anderen Wartenden auf Distanz hält, damit der „Geruch“ der Armut sie und ihre neunjährige Tochter nicht erfasst. 

Auch die Namenlosen, die die Mitarbeiter der Sozialstationen aus ihrer verdreckten Kleidung herausschneiden müssen, um sie überhaupt waschen zu können, werden erwähnt. Das Bühnenbild ist ein Karussel aus Sitzbänken, im Wechsel kommen immer andere Protagonisten zu Wort. Auch eine „normale“ Mutter, deren wichtigste Sorge es ist, die Tochter rechtzeitig zum „Morgenkreis“ in die Kita zu bringen. Straßennamen werden eingeblendet oder Tageszeiten. Ein Stück ohne erhobenen Zeigefinger, das zeigt, dass „nichts selbstverständlich ist“. Jeder kann auch in diesem reichen Land ins Abseits gleiten. Die Menschen versuchen, sich ihre Würde zu bewahren. „Die im Dunkeln sieht man nicht“, könnte man mit Brecht zu Recht sagen. Denn was den Menschen helfen könnte, ist hinschauen, sie ansprechen, mit ihnen reden.  

Genau das hat Karen Breece getan. Am Anfang und am Ende lässt sie die Darsteller Solon zitieren, einen Autor aus der Antike, der „diese unsere Stadt“, die nach dem Plan des Zeus niemals untergehen soll, gefährdet sieht, weil die Bürger „auf des Geldes Stimme hören“ und ihre Führer es nicht verstehen, „ihre Gier nach Zuviel im Zaum zu halten“. Die einzige Lösung sieht er in der „Wohlegesetzlichkeit“, die „alles wohl, schön und vollkommen“ macht, denn nur sie schafft „das Werk der Spaltung in arm und reich … aus der Welt“ und nur unter ihr „ist bei den Manschen alles wie es sich gehört und von Vernunft geleitet.“ Mit diesem eindringlichen Appell und dem integrativen Chor „Different Voices of Berlin“, der aus den Publikumsreihen auf die Bühne kommt, endet ein im besten Brechtschen Sinne  aufwühlender Theaterabend und lässt das Publikum ratlos zurück. Letztlich bleiben,  wie wir es auch von Brecht kennen, „alle Fragen offen.“ Vor allem die, wie so etwas sein kann in einer Gesellschaft, die über ein soziales Netz verfügt und sich dieses auch leisten kann.



Kulturpolitik: Brechtpflege im Sinkflug

Vergangene Woche erhielt die Schriftstellerin und Dramatikerin Nino Haratischwili den Augsburger Bertolt-Brecht-Preis. Verliehen durch Stefan Kiefer, 3. Bürgermeister und Sozialreferent der Stadt Augsburg. Die Veranstaltung ging im Goldenen Saal im Rathaus der Stadt Augsburg über die Bühne. Die Stadt Augsburg hat sich dabei bis auf die Knochen blamiert.

Kommentar von Siegfried Zagler

Obwohl sich die Jury für eine würdige Preisträgerin entschieden hatte und obwohl Laudator Andreas Platthaus eine würdige Laudatio hielt, war es eine dem Anlass nicht angemessene Veranstaltung. Verantwortlich dafür ist die Stadt Augsburg, die offenbar in altes Fahrwasser gleitet und der Brechtpflege wieder zu wenig Bedeutung beimisst.

Es ist substanziell nicht so schlimm wie in den sechziger Jahren, aber die kulturelle Verwahrlosung der Stadt bewegt sich gedanklich in diese Richtung. In dieser Zeit landeten Möbel aus dem Brecht-Nachlass auf dem Sperrmüll, wurde ein Gebinde zu Brechts Todestag an die falsche Adresse versandt und wurden unqualifiezierte Reden über den elenden Kommunisten Brecht im Stadtrat gehalten. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion veränderte sich der städtische Blick auf den berühmtesten Sohn der Stadt. Ein Museum wurde eingerichtet, ein Brecht-Preis ins Leben gerufen und ein jährliche stattfindendes Festival initiiert. Brecht wurde sogar von der Grünen Bürgermeisterin und Kulturreferentin Eva Leipprand zum kulturellen Leuchtturm erklärt. Als in Augsburg Rot-Grün abgewählt wurde, änderte sich daran wenig, doch in der zweiten Stadtratsperiode von CSU-Oberbürgermeister Kurt Gribl befindet sich Brechts Erbe wieder im Sinkflug.

Zu verzeichnen sind aktuell in diesem Zusammenhang ein unerträglich schwaches Brechtfestival, eine OB-Verfügung gegen das Rahmenprogramm des Augsburger Friedensfestes, weil dort der ehemalige Kaufhausbrandstifter und Andreas Baader-Freund Thorwald Proll eingeladen wurde und eine beispiellose Herabwürdigung des Brecht-Preis-Preises. Und schließlich legt sich über die Stadt der Mehltau der Vermutung, dass Oberbürgermeister Kurt Gribl mit seinem Aufstieg in die obersten Etagen der CSU-Nomenklatura offenbar analog dazu auf Abstand zu allem geht, was in den kulturellen Gewässern linker Hoheitsgebiete zu liegen scheint.

Auf dem vergangenen Brechtfestival wurde Kurt Gribl kein einziges Mal gesehen. Weder auf der Eröffnung noch in irgendeiner Veranstaltung war das Augsburger Stadtoberhaupt anwesend. Vorläufiger Höhepunkt der städtischen Distanzfahrt war bei der Brecht-Preis-Verleihung am Donnerstag zu verzeichnen. OB Kurt Gribl überließ die Ehrung der Stadt dem 3. Bürgermeister Stefan Kiefer, also einem Mann, dem statt einer Goldenen Kette ein Menetekel von 28 Millionen verschlampten Euro um den Hals hängt. Statt OB-Glanz und einer glänzenden Rede kam mit Stefan Kiefer ein schlechter Redner mit einer gepredigten und banalen Rede in den Goldenen Saal. Dass die Stadt nicht Kulturreferent Thomas Weitzel in die Verantwortung ließ, ist ebenfalls ein bemerkenswerter Fehltritt im Minenfeld der städtischen Kulturpolitik.

Statt eines mächtigen Postulats für das geschrieben Wort stand bei der Brecht-Preis-Verleihung seitens der Stadt ein Torso einer Rede und gehobener Jazz zum Mitschnippen auf dem Programm.

Ist es vorstellbar, dass in Lübeck der Thomas-Mann-Preis verliehen wird und ein Lübecker Sozialreferent dieses Prozedere einführt, ohne die Absenz des ersten Mannes der Stadt zu erklären? Ist es vorstellbar, dass in Düsseldorf der Heinrich-Heine-Preis verliehen wird, ohne dass darauf verwiesen wird, warum der Oberbürgermeister fehlt?

Am Vortag hat Augsburgs Oberbürgermeister Kurt Gribl noch eilig eine Pressekonferenz einberufen, um die kulturelle Aufwertung der Stadt Augsburg zu verkünden. Anlass war das Söder-Versprechen, dass Augsburg ein Staatstheater bekomme. Man befinde sich jetzt auf Augenhöhe mit Nürnberg und München, so Gribl, um einen Tag später den höchsten Kulturpreis der Stadt einer Person zu überlassen, die um ihr politisches Überleben zu kämpfen hat, was mit Händen zu greifen war.

Der Brecht-Preis der Stadt Augsburg ist ein Preis der Bürger dieser Stadt, die ein Recht auf eine Erklärung haben, warum dieser Preis nicht vom höchsten Repräsentanten der Stadt vergeben wurde.



Brechtfestival: Fatzernation – Amphetamin statt Amphitheater

Frei nach Bertolt Brechts Fragment „Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer“ zeigte das Theter Ensemble im Rahmen des Augsburger Brechtfestivals unter der Regie von Leif Eric Young im City Club eine fesselnde Dystopie von brennender Aktualität – Einfallsreich inszeniert und rasend gespielt, mit einem bemerkenswerten Makel.

Von Bernhard Schiller

Fatzernation im City Club

Larissa Pfaurecht und Lieselotte Graber (v.l.)


Eine Wohltat: Hier wird nicht larmoyant Trübsal geblasen ob der Oktoberrevolution (siehe Begleitheft der Fatzer-Produktion des Theaters Augsburg). Keine Hoffnung, dass das mit dem Kommunismus doch noch irgendwann klappen könnte. Stattdessen bekommt das Publikum von den Thetern im City Club eine brandaktuelle, fiebrige Dystopie vor den Latz geknallt, ein Theater, das keine Distanzierung zulässt. Der Ausgangsplot gemäß Brechts Fragment: Vier Soldaten desertieren aus dem Ersten Weltkrieg und verstecken sich in Mühlheim an der Ruhr, wo sie auf die Revolution warten, von der sie sich Amnestie und eine neue, bessere Gesellschaft versprechen. Während sie warten, werden sie vom Hunger gequält und es entsteht eine ideologische Auseinandersetzung darüber, ob nun die Revolution oder das Essen wichtiger sei.

Bei „Fatzernation“ landen die “Kameraden” nach einer manischen Orgie aus Kampfrhetorik und Kampf am Ende doch nur in der Selbstvernichtung. Alle Fatzer sterben. Alle Fatzer? Unter der Regie von Leif Eric Young gibt es keine Eindeutigkeit. Zu Beginn reißen sich die Soldatenmarionetten von ihrer Verkabelung los. Sie verlassen den Irrsinn der Schlachtfelder, die Fesseln des Fragments und die Fesseln der Identität, um sich fortan in einer Art “Amphetamin-Theater” vor dem Publikum auszutoben.

In schwarzen Cyborg-Kampfmonturen (Kostüm und Bühnenbild: Amelie Seeger) mehr an die Menschmaschinen aus dem Science-Fiction-Anime „Ghost in the shell“ erinnernd als an Soldaten des Ersten Weltkriegs, schreien und schlagen vier Ich/Fatzer/Du/Wir/X auf Leib und Seele ein, was das Zeug hält. Stimmen und Bilder, die an Dieter Hallervordens „Palim Palim“ oder die Dalton-Brüder aus den Lucky-Luke-Comics erinnern. Ganz offensichtlich auch der Helge-Schneider-Anklang: “Fitze, fitze, Fatzer!“ Blödelei und harte, am Text des Fragments orientierte Textpassagen, die Augen der Schauspieler mal leer ins Nichts, mal unnachgiebig das Publikum durchbohrend.

Vom epischen Theater keine Spur mehr

Vom epischen Theater keine Spur mehr: Plakat vor dem City Club


Lieselotte Fischer, Jonas Graber, Larissa Pfau und Sabah Zora spielen ihren Ich/Fatzer/Du/Wir/X voller Präsenz und Körperspannung, laut, agitierend, überzeugend. Eine Leistung, die begeistert. Auch die in einer Doppelung aus Videoprojektion und Bühnenspiel gehaltenen Reden aus der Zeit der französischen Revolution beeindrucken nicht nur schauspielerisch. Schaurig: zwischen dem ins Mörderische gekippten Idealismus des 18. Jahrhunderts und dem heutigen Krisenzustand steht der vier-vielfache Fatzer und fragt sich, wo er hingehört. Young hat den Fatzer in unsere Zeit geholt, in eine Gegenwart realer Sinnloskriege und realer Kämpfe um das Ich, das Du, das Wir, um Identitäten. Seine Inszenierung betreibt – getreu dem Philosophen Gilles Deleuze – eine Absage an die klassische Dialektik und ihr deterministisches Ziel. Stattdessen soll bei „Fatzernation“ das (Schau-)Spiel selbst der Ort sein, an dem Realitäten hervorgebracht werden und mit ihnen Fragen, die der affektiv vereinnahmte, durcheinandergewirbelte Zuschauer beantworten soll.

Vom epischen Theater Brechts keine Spur mehr. Oder doch? Die „Wiederholung mit Differenz“, die Young herstellen will, gelingt ganz hervorragend und macht – bei aller Intensität der Bilder – sogar Spaß. Allerdings: wo ist Kaumanns Frau? Die Szene, in welcher die Ehefrau des Revolutionärs ihren vertrocknenden Schoß beklagt, woraufhin der scheinbar Potenteste (Fatzer) die Wüste wässert, kommt in „Fatzernation“ nicht vor. Wie auch das gesamte Stück auf eine Beschäftigung mit dem sexuellen Begehren verzichtet.

Die Akteure stehen vor der Projektion eines Steaks und das Publikum kann sich mit Fragen nach Fleischkonsum und Krieg auseinandersetzen. Das ist natürlich okay und zeitgeistig, verfehlt aber ein dem Fatzer-Fragment innewohnendes, zentrales Motiv Brechts, welches dieser selbst als das „Furchtzentrum“ der Handlung bezeichnete. Sexuelle Rivalität als der stärkste, geradezu unüberwindliche Widerstand bei der Ausformung des Kollektivs. Bei Brecht ist Fleisch kein fragwürdiges Nahrungsmittel, sondern Metapher. Davon ist in Fatzernation nichts mehr übrig. Der Sexhunger des Fatzer ist laut Brecht sein „natürlicher Egoismus“. Die Verschränkung von libidinöser und politischer Ökonomie bzw. deren (Brechtsche) Problemstellung bleibt bei den Thetern aus.

Das Stück – Brecht selbst hielt es für unaufführbar – verliert dadurch so viel von seiner Intention, dass am Ende auch die Frage stehen bleibt, ob das Dargebotene anderes macht, als den Zuschauer durch einen Kick aus Lautstärke, Geschwindigkeit und Gewalt in einen nihilistischen Rausch zu versetzen. Eine Frage, die – ganz im Sinne des Theter Ensembles – der Reflexion des Zuschauers überlassen ist. Sehenswert ist „Fatzernation“ in jedem Fall.