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Donnerstag, 18.04.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Brauchtum im Kampf gegen Fortschritt: Warum sich die Friedensstadt vom Turamichele-Kult verabschieden sollte

Im 17. Jahrhundert Mittel religiöser Hetze, im bayerischen Königreich von Aufklärern verboten, bei Nationalisten und Nazis beliebt – heute ein Kindergeburtstag: Mit dem Turamichele feiert die Stadt Augsburg seit über 400 Jahren ein eigentümliches Fest zwischen religiöser Ideologie, deutschem Überlegenheitswahn und infantiler Verklärung. – Warum die Stadt Augsburg sich vom aktuellen Turamichele-Ritual verabschieden sollte.

Von Bernhard Schiller

Merkmal zivilisierter Kulturen ist die Einhegung der Gewalt und darin die physische Verschonung des unterworfenen Feindes sowie seine Zuführung zu einem rechtsstaatlichen Verfahren. Nicht so beim Turamichele, das seinen Gegner im Übertötungsrausch dahinmetzelt und gegen Aufklärung und Kritik seit Jahrhunderten immun zu sein scheint.

Zeughaus

Michaeliskult am Zeughaus      (Foto: B. Schiller)


Als Einwand auf die in der DAZ erschienene Kritik am Turamichele-Fest schrieb ein gewisser “Professor Dr. Spätzle” im vergangenen Jahr in der Neuen Szene: „Vielleicht mag mich die Geschichte widerlegen (…): Sollte es Gründe für ein etwaiges Wiederaufleben von Antisemitismus, Rassismus und totalitärer Gewalt geben, dann wird dafür nicht in erster Linie das Turamichele verantwortlich sein.“ Heute macht sich gar die Augsburger Allgemeine mit dem Stilmittel der Karikatur über die DAZ-Kritik lustig: Das Turamichele solle in Zukunft den Drachen nicht zigmal Abstechen, sondern busseln. Die Kinder könnten dann die Bussis mitzählen. Bagatellisierung der Kritik ist eine stereotypische Reaktion, wenn es darum geht, kulturell verankerte Bräuche gegen zivilisatorischen Fortschritt zu verteidigen. Was bei der Bagatellisierung fiktionaler Gewalt jedoch allzu oft übersehen wird, ist das unendliche Geflecht ähnlicher Erzählungen, deren narrative Strukturen situativ in feindseligen Gewaltäußerungen zu Tage treten können. Beim Turamichele kommt erschwerend hinzu, dass es sich hier weniger um Fiktion im Sinne eines bestenfalls parabelhaften Figurentheaters handelt, als vielmehr um ein identitätsstiftendes Ritual, wiederholt im alljährlichen Zyklus.

Schwarze Pädagogik in der „Friedensstadt“

Diese Zusammenhänge sinnvoll einzuordnen, verlangt eine Begleitung durch Erwachsene, die Kindern beim kritischen Hinterfragen vorgefundener Konzepte behilflich sind. Doch es geschieht genau das Gegenteil: Der Versuch seitens der Veranstalter, durch ein von Kindern aufgeführtes Turamichele-Schauspiel pädagogisch gerecht zu werden, dient nicht Aufklärung und kritischer Auseinandersetzung, sondern neuer Verschleierung. Bei jedem Stich des Himmelsfürsten, so die aktuelle Legende erzählt, verschwinde eine Sorge. Mit aggressiven Allmachtsphantasien die Realität bewältigen? An Sorgen und Konflikten reift, wer sie leben lässt.

Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit läuft kein Kind, das um 10:00 Uhr das Turamichele beim Niedermetzeln angefeuert hat, um 16:00 Uhr auf dem Spielplatz Amok. Ein Nachspielen der Szene jedoch ist durchaus vorstellbar und jeder, der die unheilvollen Dynamiken in Menschen- beziehungsweise Kindergruppen kennt, kann die Frage, wen die Rolle des Unterlegenen trifft, zuverlässig selbst beantworten.

Der Gegner des Turamichele liegt auf dem Rücken zappelnd über der Zirbelnuss, sämtliche Gliedmaßen von sich gestreckt, die Kehle zeigt frei und verwundbar zum Sieger. Unterwerfungsgesten, die Verhaltensforscher und Hundebesitzer gut verstehen und die den Verzicht auf weitere Gewaltanwendung wortlos kommunizieren. Wieso also soll Kindern (und Erwachsenen) mit höchster Autorität und vom Turm herab veranschaulicht werden, jegliche Hemmung fallen zu lassen? Weil der ökonomische Zweck ein „heiliger“ ist? Entspricht das dem kulturellen Auftrag einer Stadt, die sich selbst „Friedensstadt“ nennt?

Dass man für die menschliche Existenz so außerordentlich bedeutsamen Kategorien von Gut und Böse diskussionslos instrumentalisiert, ist bodenlos und nicht hinnehmbar. Eine Stadt, der es wirklich ernst ist mit dem Frieden, kann sich solches nicht dauerhaft leisten.

Das Turamichele: Zu sehen ist ein Mensch, der einen anderen erniedrigt und ohne das geringste Anzeichen von Zweifel oder Zurückhaltung erbarmungslos absticht (Foto: Stadt Augsburg)

Turamichele: Zu sehen ist ein Mensch, der einen anderen erniedrigt und ohne das geringste Anzeichen von Zweifel oder Zurückhaltung erbarmungslos absticht. (Foto: Stadt Augsburg)


Hier wird nun deutlich, wie das Problem des Turamicheles gelagert ist: Ohne die (traditionelle) Überhöhung vom Kampf des Guten gegen das Böse ergäbe der städtischen Kindergeburtstag keinen Sinn. Nichts, außer dem, was tatsächlich – und das heißt, mit intentionslosen Kinderaugen geschaut – zu sehen ist: Ein Mensch, der einen anderen erniedrigt und ohne das geringste Anzeichen von Zweifel oder Zurückhaltung erbarmungslos absticht. Selbst im Katechismus der für das Turamichele-Ritual ursächlich verantwortlichen katholischen Kirche heißt es, dass die „Tötung des Angreifers“ zwar in der Notwehr passieren könne, aber nie gewollt sein kann. Ansonsten käme sie einem vorsätzlichen Mord gleich. Es braucht schon sehr viel Willen zur Wirklichkeitskonstruktion, um im mehrfach stumpfsinnig zustechenden Turamichele etwas anderes zu sehen.

Albernheit, Relativierung und die Suche nach großen Erzählungen

Professor Spätzle hat also Recht, wenn er nach den Spuren fragt, die das blutige Puppenspiel heutzutage in Gehirne legt. Es sind Spuren, die zwischen relativistischer Albernheit, zwischen Nihilismus und allumfassender Konsumreligion changieren. Diese Spuren führen zur Gewalt. Nicht jetzt, nicht hier und nicht bei diesem Kind. Aber insgesamt, als thermische Voraussetzungen einer gesellschaftlichen Großwetterlage. Die politische Gegenwart ist von Krisen und zunehmender Instabilität gekennzeichnet. Menschen suchen Halt und scharen sich um verführerische Angebote. Da sind jene großen Erzählungen, sei es die vom islamischen Kalifat oder die vom Heiligen Römischen Reich, vulgo christlichen Abendland. Sankt Michael, Schutzpatron des letzteren, steht dafür (nicht nur) symbolisch.

Wer nur nach hinten schaut und nebenan, nach Sachsen oder Syrien, mit dem Finger projektiv auf die sichtbaren Teufel deutend, und denkt: „Aber wir doch nicht! Aber ich nicht!“, den widerlegt die Geschichte in ihren wiederkehrenden Zyklen. Antisemitismus – insbesondere – wird nicht eventuell wieder auflodern. Er ist längst da. Er kommt von innen mit dem erwachenden Michaelsgeist in wütenden Deutschen, er kommt von außen durch zahlreiche Zuwanderer, er kommt aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft, getarnt als sogenannte “Israelkritik”.

Michaelskult: Judenfeindschaft von Anfang an

Das „Gerücht über die Juden“, wie der Philosoph Adorno den Antisemitismus nannte, nahm den für die abendländische Geschichte ausschlaggebenden Anfang mit der usurpatorischen Aneignung und Verfälschung der Michaelsidee durch das romanisierte und dann deutsche Christentum, inklusive der im Heiligen Römischen Reich pervertierten Volk-Gottes-Vorstellung. Bis heute gelingt es den Kirchen nicht, sich von dieser im Michaelskult bildlich präsenten, genuin antijüdischen Erbsünde radikal zu lösen. Die Augsburger Stadtgeschichte ist (von der Schlacht auf dem Lechfeld bis hin zur Gemeinsamen Erklärung der Rechtfertigungslehre im Jahr 1999) untrennbar mit der Kirchengeschichte verknüpft.

Nachvollziehbar, dass es darum schwerfallen dürfte, ein empathiefeindliches Ritual, das derart fundamental in den genetischen Code der Stadt eingewoben ist, loszuwerden. Umso stärker würde deshalb eine konsequente Aktion wirken, welche die Turamichele-Figuren aus ihrem bisherigen Rahmen entfernt und in bessere Kontexte stellt.