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Dienstag, 16.04.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

EM: Löws Kniefall vor Italien war ohne Inspiration und Raffinesse

Selten hat  im Rahmen einer Europameisterschaft ein Fußballspiel, das zu den Klassikern des Weltfußballs zählt, bei den glücklichen Siegern im Nachgang für dergestalt intensive Negativdiskussionen gesorgt. Gemeint ist natürlich Mehmet Scholls Angriff auf die Taktik der Deutschen in ihrem EM-Viertelfinalspiel gegen Italien. Ein Angriff, der weder in der Form angemessen noch in der Sache zutreffend war, aber eine wohltuende Wahrheit anklingen ließ: Eine taktische Maßnahme, die die eigenen Stärken pulverisiert, ist keine Taktik, sondern eine Fehleinschätzung der Verhältnisse.

Von Siegfried Zagler

Es geht nämlich nicht um die Frage Dreierkette oder nicht, sondern darum, wie man eine Mannschaft auf einen schwierigen, aber insgesamt schwächeren Gegner einstellt. Die deutsche Fußballnationalmannschaft hat mit Neuer, Hummels, Boateng, Khedira, Schweinsteiger, Kroos, Özil, Müller sowie mit Draxler/Goetze/Sane und einem Mario Gomez in Form, Spieler in ihren Reihen, die von europäischen Spitzenklubs umworben werden oder dort längst spielen. Es handelt sich, wenn man so will, um eine Weltauswahl, die jedem Gegner mit Respekt begegnen sollte, aber nicht mit Furcht.

Die Idee, einen hochbegabten und dribbelstarken Stürmer (Draxler) gegen einen hölzernen Verteidiger (Höwedes) zu opfern, um italienische Konterangriffe durch die Mitte zu unterbinden, indem man mit drei Innenverteidigern das Zentrum und mit zwei vorangestellten Außenverteidigern  die Außenbahnen zustellt, wäre nicht falsch gewesen, hätten sich die Deutschen im Angriff öfters über die Flügel bis zur Grundlinie durchgespielt, wie es beim Führungstreffer durch Özil der Fall war. Wäre nicht falsch gewesen, hätten Müller und Kimmich auf der rechten Seite angeschoben oder Eins-zu-Eins-Situationen für sich entscheiden können. Und schließlich wäre diese Idee nicht falsch gewesen, wäre das deutsche Spiel nach vorne mutiger und breiter angelegt gewesen, um der „Passmaschine“ Kroos Passlinien zu eröffnen, was fast nie geschah. Das „Offensivkonzept“, gegen eine italienische Abwehr dutzendweise Flanken aus dem Halbfeld zu schlagen, war kein Konzept, sondern ein Zeichen von Hilflosigkeit.

Wenn sich, wie am Samstag geschehen, ein Matchplan verfestigt, weil ein Trainer auf zwei verletzte Spieler reagieren muss, dann kann man dem Trainer schwer vorhalten, dass er auf den Spielverlauf nicht angemessen reagiert hat. Und dennoch muss man festhalten, dass Löw im letzten Drittel der regulären Spielzeit, als die Italiener bereits erschöpft wirkten, nur sehr verhalten auf diese Schwächephase reagierte, indem er alternierend Boateng und Hummels durch die Mitte angreifen ließ, wo der Platz ohnehin knapp war, da der eingewechselte Draxler eins zu eins den verletzten Gomez in der Mitte ersetzte.

Intelligent wäre es gewesen, in der Verlängerung, als sich die Mittelfeldstrukturen der hoch organisierten  Italiener aufzulösen begannen, Kimmich in die Mitte zu stellen und mit Leroy Sane (für Höwedes) einen Spieler zu bringen, der mit langen Sprints über rechts- und linksaußen zur Grundlinie hätte marschieren können und im Dreiklang mit Müller und Draxler für Passlinien hätte sorgen können. Denkbar wäre in der Verlängerung auch die Variante gewesen, den müden Schweinsteiger herauszunehmen, um mit Sane, Kimmich und Müller den Druck über rechts zu erhöhen, während Draxler und Hector über links im Zusammenspiel mit Özil den Abschluss hätten suchen können.

Marcello Lippi hat es den Deutschen in der Verlängerung im Halbfinale der WM 2006 vorgemacht:  Nach einer Ermüdungsschlacht hat Lippi das Heil im Angriff gesucht, indem er für zwei defensive Mittelfeldspieler zwei Angreifer brachte. „Wir“ sind gegen Italien weiter! Das wirkt bis heute nach! Wir sind aber nicht weiter, weil wir taktisch oder spielerisch besser waren, sondern wir sind weiter, weil es er Zufall so wollte. Es war ein historischer Sieg nach einem bizarren Elfmeterkrimi mit viel Glück und großer Genugtuung. „Es war ein Spiel auf Augenhöhe, in dem sich beide Mannschaften neutralisierten“, sagte Fernsehexperte Mehmet Scholl. Eine Phrase, die immerhin zutraf.

Es war ein Spiel auf Augenhöhe der Italiener, die die Deutschen innehatten, weil sie zuviel Ehrfurcht zeigten und einen tiefen Knicks machten.